Amrum vital

Bodenfrost, Schneefall? Nicht die Spur. Der Kapitän des Schnellbootes hat nur gescherzt. Ganz im Gegenteil, erklärt Hotelier Kay Seesemann, als ich auf Amrum ankomme. Denn er weiß, wie sehr das Inselklima von den umgebenden Wassermassen beeinflusst wird. Im Herbst kühlen sie langsamer ab, im Frühjahr heizen sie nicht so schnell auf.

„Beim ersten Bodenfrost auf dem Festland haben wir hier noch gemäßigtere Temperaturen.“ Aber der Wind, der weht heute ganz schön. Lieber tauschen wir die geplante Aerosol-Wanderung entlang der Südspitze gegen eine Nordic Walking-Tour durch die Dünenlandschaft am nächsten Tag.

Mit dem Schiff nach Amrum
Land in Sicht

Das sei bei den aktuellen Windverhältnissen die bessere Wahl. Trotzdem möchte ich wissen, was es mit den Aerosolen auf sich hat. Tief durchatmen – auf Amrum das A und O. Denn der Salzgehalt in der Luft ist auf Amrum relativ hoch. Gleichzeitig fördert die gehaltvolle Zusammensetzung des Aerosols die Sekretbildung der Atemwege. Außerdem gilt die Inselluft als äußerst allergen- und schadstoffarm.

Bestens für die Bronchien, und ich merke auch schon, wie sich die Erkältung langsam löst. Je näher man der Wasserkante kommt, desto spürbarer wird das. Diese Besonderheit, das ist fast wie eine Verpflichtung für die Amrumer. Und so möchte man die Gäste gerne zu Aktivitäten wie Wanderungen, Nordic Walking und Fahrradfahren animieren.

Gesunde Aerosole

Die Aerosol-Wanderung mache ich also auf eigene Faust. Einfach raus, durchatmen, runterkommen. Das macht auch den Kopf frei, und der Körper entspannt. Der Wind fegt den Sand über den Boden, ich kann die Kamera kaum gerade halten. Den Objektivdeckel reißt er mir aus der Hand und schleudert ihn über den Strand. Wo er rollt und rollt und rollt. Ich jage hinterher. Wer ist schneller – der Wind oder ich? Zu allem Überfluss drückt er mir die Mütze von hinten über die Augen. Verflucht witzig!

Kniepsand
Wo der Wind fegt.

Wie man bei solchen Geschwindigkeiten noch einen Drachen steigen lassen kann, ist mir schleierhaft. Dieser eine am Strand von Amrum knallt dann auch gefühlte drei Meter neben mir in den Sand und hätte mir bei größerer Treffsicherheit vermutlich den Schädel gespalten.

Viele Leute sind nicht unterwegs. Aber vielleicht wirkt es nur so – bei den gigantischen Ausmaßen des Kniepsands. Ich lasse mich weiterschieben. Bloß nicht die Richtung nicht ändern! Sonst bläst mir der Wind den Sand ins Gesicht und überall hin.

Kniap wie kneifen

Daher auch der Name Kniepsand: Auf Amrumer Friesisch heißt „kniap“ einfach kneifen. Dabei ist es nur der ewige Wind, der die immense, sich über 10 Quadratkilometer ausdehnende, langsam wandernde Sandbank bei Amrum zum „Kneifen“ bringt.

Es ist Zeit für Wittdün, eine Kaffee- und Kuchenpause. Wärme und Apfelstrudel. Die Gummistiefel sind noch sandpaniert, als ich in einem Café einkehre. Es ist eben kernig, das Inselleben. Trotz des umfangreichen Sortiments – der Schietwetter-Tee reizt mich schon – muss es ein großer Milchkaffee zum Aufwärmen sein.

Beim Verlassen des Lokals wird der Wind von Nieselregen begleitet. Ein Schirm? Zwecklos. Was für ein Glück, dass nun „vitaltherapeuthische Maßnahmen“ auf meinem Programm stehen. Was erwartet mich beim Osteopathen? Uwe Liesegang ist außerdem noch Physiotherapeut, Heilpraktiker und in Traditoneller Chinesischer Medizin qualifiziert.

All diese Dinge scheint er bei meiner Behandlung anzuwenden. Mit geübten Griffen und oft so flott, dass ich gar nicht merke, wie mir geschieht. Es pikst kurz hier, knackt dort und zieht da – am Ende fühle ich mich so erschöpft wie mindestens nach einem Marathon oder Zehnkampf.

Päuschen im Hotel

Und gleichzeitig wie neugeboren. Sollte ich von nun an wieder regelmäßig Nordic Walking und Yoga machen, wäre das optimal, gibt mir der gute Mann mit auf den Weg. Heute Abend würde ich wohl ziemlich müde sein, der Körper verarbeitet ja gerade etliche Informationen und plagt sich an mehreren Baustellen.

Ob‘s zum Dinner noch reicht, möchte ich wissen. Das liegt mir am Herzen. Er gibt grünes Licht. Und wirklich, ich halte alle vier Gänge plus Gruß aus der Küche durch. Und genieße: Salat mit gebratenen Calamari, Kürbissuppe, frische Scholle sowie ein köstliches Friesen-Brioche mit Pflaumenmus und leichter Vanillecreme.

Eine gute Wahl dazu der leichte Grauburgunder, auf den ich mich mit der Kellnerin geeinigt habe. Es folgt ein wohltuender Tiefschlaf in meinem geräumigen „Nordsee-Zimmer“. Nur einmal werde ich nachts wach und bewundere die Sterne über mir durch das weite Dachfenster. Ein klarer Nachthimmel über Amrum…

Nordic Walking auf Amrum
Fit auf Amrum

Nach dem Frühstück geht es mit dem Hausherrn und drei weiteren Gästen zum Nordic Walking. Kay Seesemann stellt die ausleihbaren Stöcke auf die jeweilige Körperlänge ein, erläutert die Technik – die anderen sind blutige Anfänger – und dann preschen wir los.

Was für ein Licht an diesem Morgen! Der helle Kniepsand leuchtet auf, die Dünenlandschaft wird vor dem dunklen Horizont so plastisch modelliert, dass ich ständig nur fotografieren möchte.

„Das ist Süßwasser“, klärt uns der Leiter der sportlichen Expedition auf. Wir sind überrascht, denn Süßwasserpfützen und -bäche hätten wir am Strand nicht vermutet. Als wir rechts abbiegen und unsere Tour über einen hölzernen Bohlenweg fortführen, kommen wir sogar zu einem Dünensee, dem Wriakhörn. Noch mehr Süßwasser.

Regenhimmel, Amrum
Verliebt in Amrum

Am Horizont geht ein kräftiger Schauer runter, doch wir gelangen fast trockenen Fußes nach einer Stunde wieder zurück zum Hotel. Begeistert. Vom Frühsport. Verliebt in den Kniepsand. In Amrum. Erfrischt. Von dieser Wahnsinns-Luft.

Als ich später wieder auf dem Schiff bin, überkommt mich nach der ganzen frischen Luft so ein Hungergefühl, dass ich den in der Tiefe der Tasche gefundenen Apfel direkt essen muss. Dieser ist allerdings vom letzten Samstag. Eine Erinnerung an den Passader See. Schmeckt hervorragend, während wir bei vorherrschendem Nordwestwind die raue Seite der Nordsee zu spüren kriegen.

Text und Fotos: Elke Weiler

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