Der ewige Rhein

Beim ersten Mal fahre ich vorbei. Die Hausnummer? Ich versuche mich zu erinnern. Ein Stück zurück, ich bin schon fast am Ende der Straße. Wo ist der Papagei?

Endlich stehe ich vor dem Haus. Mitten in Bonn, ehemalige Bundeshauptstadt und Ort meines Hauptstudiums. Auf der wunderbaren Argelanderstraße in Poppelsdorf.

Doch schon der Versuch, in die damals rosenumrankte Erkerwohnung der Hochparterre hineinschauen, ist zum Scheitern verurteilt. Ein Baugerüst deckt alles ab.

Zur Zeit wohnt hier niemand, die Rosen sind weg, ein vereinzeltes Fahrrad steht im Hof. Wohl nur übers Wochenende, wenn hier weder Bauschutt noch Staub produziert werden.

Tür zu meinen Erinnerungen

Die Holztür, vermutlich ein Original der Gründerzeit, widersetzt sich dem Chaos rundherum und wirkt schön wie eh und je. „Mein“ Papagei, beziehungsweise das gesamte kleine Jugendstilfenster nahe dem Eingang, wurde durch schnödes Milchglas ersetzt.

Hier habe ich ein paar Semester lang gewohnt. Ich habe an dem Schreibtisch im Erker meine Seminararbeiten geschrieben, im Sommer bei offenem Fenster und mit Rosenduft.

Im Innern umgeben von einer magischen Farbe, das Blau eines Lapislazuli an hohen Wänden, das einen aufsaugt wie der Sternenhimmel in Mexiko.

Nun spricht das Chaos für eine Grundsanierung und Umstrukturierung. Wer weiß, ob vorher noch Studenten in dem Haus wohnten. Relikte wie der Münzapparat im Bad des ersten Stocks? Auf dem Müll.

Poppeldorfer Allee

Dabei sind Duschmünzen eine sexy Erfindung. Spiel, Spaß, Spannung: Reicht es, oder muss ich mit Shampoo im Haar durch die Gegend laufen? Kuriositäten des Studentenlebens.

Ich fahre ein Stück weiter, den Vintageladen an der Ecke gibt es auch nicht mehr. Hier hatte ich mir eine Jugendstillampe passend zum Haus gekauft, mit sanftem Licht und geschwungenen Formen.

Bei einem der zahlreichen Umzüge meines Lebens ist sie kaputt gegangen. Also alles anders? Nein. Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität im einstigen kurfürstlichen Schloss und Poppelsdorfer Schloss wirkt gediegen wie eh und je.

Vor meinen Abstecher in die Argelanderstraße habe ich sogar etwas getan, was ich während meiner Studienzeit nie geschafft habe: ein Besuch im Botanischen Garten nebst Poppelsdorfer Schloss. Ich allein unter Blumen. Fast.

Botanischer Garten

Habe ich Bonn überhaupt je richtig gekannt? Vermutlich haben Kunstgeschichte und Romanistik es verhindert. Oder ich bin zwischen zwei Seminaren zu oft auf der Wiese im Hofgarten oder am Alten Zoll oder am Rhein abgeblieben.

Berauscht vom süßlichen Duft der Linden im Hofgarten. Wie heute. Oder vom Betrachten des Flusses, nur Yoga wirkt möglicherweise entspannender als das Fließen des ewigen Rheins.

Die Fähre nach Beuel, die ich so oft nahm, als ich anfangs schräg gegenüber in Oberkassel wohnte. Das Dorf, das zur Stadt gehört und doch so weit weg ist vom Geschehen.

Man fährt Rad.

Es muss am Rhein liegen, er trennt die Städte. Den Lastkähnen ist das egal, sie schieben sich unaufhörlich flussauf- und abwärts, es herrscht mächtig Betrieb auf dem größten Strom des Landes. Wenn es einen Fluss gibt, an dem mein Herz hängt, so ist das der Rhein.

Er bestimmt alles, den Charme und die Atmosphäre von Bonn, Köln und Düsseldorf. Auch wenn Bonn die kleinste der drei Städte ist: Die Überlagerung des Provinziellen mit studentischem und internationalem Flair verleiht Bonn das gewisse Etwas.

Schon am Hauptbahnhof fiel mir auf: „Willkommen in der Stadt der Vereinten Nationen“. Wohl eine Anspielung auf den Langen Eugen, eines der beiden Hochhäuser am Rhein. Das ehemalige Abgeordnetenhaus beherbergt heute die UN.

Ich fahre hinunter zum Rhein, düse durch die gepflegten Alleen der Südstadt, bis ich vor jenem Bahnübergang stehe. Auf der Seite der Begierde verläuft die Kaiserstraße, auf der Seite der Begierde geht es zum Fluss. Nur die Schienen und Schranken trennen uns.

Alltag in Bonn

Das ewige Warten am Übergang hat sich keinen Deut verbessert, und ich bin zufrieden. Es kommen zwei, drei, vier, fünf Züge vorbei – die linksrheinische Strecke ist beliebt.

Spontane Unterhaltungen ergeben sich nicht selten. Zeit fürs Philosophieren am Bahnübergang. Hier in Bonn, wo die Philosophische Fakultät die größte der Uni ist. Wie viele Züge habe ich schon verpasst?

„Letztes Mal stand ich zwanzig Minuten hier“, erzählt eine Frau vor mir. Allerdings lag das auch an einer kaputten Schranke, wie sich am Ende herausstellte. Vielleicht hat sie diese Zeit aber auch einfach nötig gehabt. Wer weiß das schon?

Kleine Lektüre gefällig?

Sportliche nehmen die Unterführung und schieben kraftvoll neben den Stufen. Aber ich koste das Warten aus – in Erinnerung an alte Zeiten. Irgendwann geht es weiter, ich lande vor der Adenauerallee und sehe ich ihn auch schon: In Bonn führen alle Wege zum Rhein.

Der Radweg am Ufer, eine Herrlichkeit. Theoretisch geht er bis Koblenz. Praktisch aber käme der Radler höchstens bis Bad Godesberg, so meint jedenfalls das „Bönnsche Mädsche“ Gaby während der Einweisung in die City und ihre Kultur.

Auf eine beschwingt rheinländische Art vermittelt Gaby ihr Wissen, und ich fühle mich gleich wie zu Hause. Doch wieso kommt der gemeine Radfahrer nun nicht bis Koblenz? Die Biergärten sind schuld! Zu viele davon lägen auf dem Weg, so Gaby.

L’Allumé von Mark di Suvero

So sind wir Rheinländer nun mal, immer gemütlich, Genießer eben. Noch ist mir kein Biergarten über den Weg gelaufen, dabei bin doch schon fast bis Koblenz geradelt, oder? Nicht ganz. Ich lande vor einer Stahlskulptur mit langen, roten Fühlern.

Bei fast orientalischer Hitze halluziniere ich jetzt den nächsten Biergarten herbei. Eine knallrote italienische Ape mit Kaffee und Croissants im Gepäck? Alles real. Ein sogenannter Cafe-Roller, wie ich ihn auch schon im Hofgarten gesehen habe.

Am Rhein stehe sie nur bis Oktober, bis zum Ende der Freilauftsaison, erzählt mir Eva vom Café-Roller. Vor acht Jahren hätten sie die erste Ape aufgestellt, nun seien es schon drei in der Stadt.

Aber vor acht Jahren war ich schon nicht mehr in Bonn. Ich nehme eine Bio-Limonade, gut gekühlt. Gemütlich fläzt es sich hier mit Kind und Kegel auf der Wiese, ein einziger kleiner Tisch mit Biergartenbänken steht da. Reicht doch. Hauptsache am Rhein.

Bundeskunsthalle

Ich habe die Stadt anders in Erinnerung, weniger lässig, weniger rheinländisch. Irgendwie ist Bonn charmanter geworden. Musik an allen Ecken, abends am Biergarten des Alten Zolls, in der Rheinaue neben dem Posttower oder auf der Museumsmeile.

Aktuell haben die Verantwortlichen im Zusammenhang mit der gleichnamigen Ausstellung einen Kleopatra-Garten auf dem Dach der Bundeskunsthalle inszeniert. Palmen zwischen den türkisfarbenen Zylindern der Architektur von Gustav Peichl.

So sind wir sind hier in den Genuss eines Chill-outs gekommen – über den Dächern der Museumsmeile, die sich übrigens nicht verändert hat. Der Garten wirkt nicht unbedingt orientalisch, sondern eher mediterran auf mich. Wie die ganze Stimmung in Bonn an diesen Sommertagen.

Des Bonners Seele

Auf dem Rückweg spare ich mir den Bahnübergang für Philosophen und entscheide mich für die schnelle Unterführung am Busbahnhof. Ein alter Mann spielt Vivaldi, nicht Beethoven. Die Melodie tanzt auf und ab. Eine ungeahnte Leichtigkeit in Bonn.

Vielleicht hat sich viel getan in den letzten Jahren, vielleicht habe ich Bonn auch nie richtig gekannt. Dabei hätte ich nur auf den Rhein vertrauen sollen. Und auf das Bönnsch?

Text und Fotos: Elke Weiler

38 thoughts on “Der ewige Rhein

          1. St. Petersburg ist intensiv, bes. für Fans russischer Literatur :) Wärend der weißen Nächte ist da eine magische Atmosphäre. Greifswald ist (jetzt) eine kleine, feine Perle. Älteste Uni Schwedens :) Als Studentin mochte ich die Lebendigkeit dort, was es nicht gab, wurde selbst auf die Beine gestellt. Das Buch zur Stadt: Koeppens „Jugend“ und auf ein Getränk ins Café Koeppen in der Bahnhofsstraße gehen nicht vergessen :)

          2. Danke für die Tipps! Sollte ich mal zu einem der beiden Orte kommen, spreche ich dich vorher noch mal an. Falls du bis dahin deine Revival Trips noch nicht gebloggt haben solltest! ;-)

  1. Ein wunderbarer Beitrag, der wieder einmal beweist, warum Du beim #PDRBBonn die Storytelling-Session durchgeführt hast. Super das Gefühl dieser Stadt zwischen Provinz & UN eingefangen!
    LG, Kristine

    1. Danke, Kristine! Und das von dir als „alte“ Bonnerin! :-) Was mich ja mal sehr interessieren würde, wäre der Kunst!Rasen. Sommerkonzerte am Rhein, tolle Gruppen… Warst du schon mal dort?

      1. Hast du mich eben ALT genannt? ;)
        Den Kunst!Rasen gibt es seit letztem Jahr. Die Location direkt am Rhein in der Rheinaue ist absolut großartig. Drin bin ich selbst allerdings noch nicht gewesen (nicht ganz meine Gruppen).
        Im vergangenen Jahr konnte man sich während der Konzerte noch gut draußen mit Freunden hinsetzen, bisschen quatschen und der Musik von drinnen zuhören. Mittlerweile ist das leider alles ziemlich abgeschottet. Da gibt es nur: richtig rein oder besser bleiben lassen. Aus Veranstaltersicht nachvollziehbar, aus Privatsicht natürlich schade.
        Ganz interessant noch: Auf der kleinen Bühne spielen um 16/18 Uhr eher kleinere und unbekanntere Gruppen. Eintritt ist frei bzw. auf Spendenbasis. Dort kann man gut ein paar neue Talente entdecken.

        1. Nur in Bezug auf Bonn, ne?! :-) Danke für die Infos, das muss ich mir mal für nächstes Jahr merken. Mich hätten da spontan LaBrassBanda und Zaz interessiert. Und die unbekannten Talente. :-)

  2. Obwohl ich seit meiner Studentenzeit nicht mehr aus Köln weggezogen bin, ist es auch für mich immer wieder spannend die Stätten des „studentischen Wirkens und Lebens“ wieder zu sehen und entdecken. Vor wenigen Jahren war ich bei einer Veranstaltung an der Hochschule und saß auf einmal wieder in dem gleichen Hörsaal, in dem ich viele Tage meines Lebens verbracht habe. War auch ein merkwürdiges Gefühl…

      1. In Düsseldorf geboren, in Langenfeld aufgewachsen und im Kreis Mettmann die ersten journalistischen Sporen verdient ;-)

        Aber Du hast recht: Ich sollte mal wieder in meine Geburtsstadt reisen. Sieht heute auch alles anders als vor 20 Jahren und mehr aus…

        1. Nun sag‘ bloß, du bist schon mehr als 20 Jahre nicht mehr in Düsseldorf gewesen? Wo dich deine Mama als Baby schon mit auf die Ratinger nahm? Ingo, ich bin entsetzt… ;-)

          1. Natürlich war ich immer wieder mal in Düsseldorf. Geschäftstermine und so. Auch den Flughafen sehe ich regelmäßig. Aber mal wieder richtig durch Düsseldorf geschlendert bin ich seit 18 Jahren nicht mehr…

  3. Da bin ich aber mal so richtig in die Geschichte reingezogen worden. Sentimental Journey … wie wunderschön solche nostalgischen Erinnerungen doch sind!
    Danke für diese herrliche Betrachtung!
    Und herzliche Grüße aus dem Rheinland von Anke

  4. Ich mag deine Posts immer sehr! :-)
    Immer fühle ich mich als wäre ich dabei gewesen. Diesmal war ich es sogar. Und es war toll!

    Liebe Grüße aus Aachen
    Jessi

      1. Ja, ich habe wirklich sehr große Lust, dich und dein Redaktionsteam zu besuchen. Ich werde mich dazu einfach mal per Mail bei dir melden. Dann können wir ja schauen, wann wir das hinbekommen.

  5. Wow Elke, ich bin total begeistert! Du hast eine wunderschöne Geschichte geschrieben, man kann sie regelrecht miterleben. Ich finde es immer wieder sehr beeindruckend, wenn ich Texte lese und dazu gleich Bilder im Kopf habe. Und irgendwie rührt es mich auch sehr an, du schilderst deine Erlebnisse so sehr emotional, dass ich als Bonnerin wieder einen ganz anderen Blick auf meine Stadt bekomme :-)

    1. Freut mich sehr, Bettina! Einige Erlebnisse habe ich unterschlagen, wie du vielleicht gemerkt hast. ;-) Daher bin ich auch schon auf die Bonn-Artikel der Anderen gespannt… Es war eine schöne Zeit! Danke dir noch einmal für alles!

  6. Was für eine tolle Idee, ich habe mich auch schon vorgenommen meine glückliche Schulzeit einmal wieder auszusuchen. Aber Bonn hat schon seinen eigenen Charme. Tolle Fotos.
    LG sendet Dir Dani

  7. Super netter Bericht! Ich war in meiner Studienzeit nur einmal bei einer Freundin zu Besuch in Bonn … und fand es damals eher langweilig. Aber vielleicht muss ich doch noch mal hin, um mein Urteil zu revidieren ;-)

  8. Was für ein wunderbarer persönlicher Erlebnisbericht.

    Der Bahnübergang der Philosophen – klasse!
    Denn da steh ich auch JEDEN einzelnen Tag. Wenn man nicht unter Zeitdruck ist – gut dann zeit zu verschnaufen (und zu philospieren), wenn die Zeit knapp ist, es nass oder kalt ist ein Fluch.
    Naja, aber jammern auf hohen Niveau oder?

    Habe dein Bericht in meine Liste der Bonnberichte von Reisebloggern aufgenommen.

    Liebe Grüße unbekannterweise
    Michèle

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