Das Mökki

Finnland

Der Klang der Stille. Der Wind raschelt mit den Blättern der Birken, ab und zu ein Blubbern im See. Was ist Meditation? Vor Jahren habe ich es mal probiert, in der Türkei. Doch eine Kuh hat zugeschaut, die Sonne brannte sich schon frühmorgens ins Gehirn, und das Meer rief.

Dann sind fünf Minuten eine Ewigkeit, fünf Minuten, ohne an etwas zu denken. Am See ist das anders. Es gibt keine Kuh, kein Meer, und die Sonne hat Mitte August noch Kraft, aber nicht zuviel. Irgendwo in Finnland sitze ich zwischen ellenlangen, unaussprechlichen Ortsnamen an einem See, einer von offiziell über 187.000.

Ein Holzsteg, eine Bank, ein Boot – meine direkte Verbindung zum Nirvana. An Land ein paar Holzhütten unter Birken. Denn das klassische finnische Mökki ist immer mehrteilig. Und so laufe ich in den folgenden Tagen zwischen den Holzhütten hin und her: Der Hauptteil besteht aus Wohnzimmer, Küche und einer Sauna mit separatem Eingang.

Etwas höher liegt die Schlafhütte. Auf dem Weg dorthin über einen Schlenker zu erreichen die Hütte für kleine und große Bedürfnisse, die mit einer Komposttoilette ausgestattet ist. Last but not least die niedrige Hütte fürs Holz. Die ich nie benutze, da schon genügend Holz für die Sauna bereit liegt.

Was fällt auf? Richtig, es gibt keine Badezimmerhütte! Ich benutze das Waschbecken der Küche zum Zähneputzen und die Dusche der Sauna. Im Vorzimmer der Sauna, das mit einem Sofa ausgestattet ist, kann ich sogar in den Spiegel gucken, falls Bedarf herrscht.

Alles Taktik

„Nimm‘ Mückenspray mit!“, hatte die bessere Hälfte warnend geraten. „Aber ich fahre doch nicht nach Lappland!“, hatte ich geantwortet, wo im Sommer Myriaden von Mücken durch die Lüfte schwirren. Ich bin im ostfinnischen Seengebiet, und die Mücken surren verdächtig leise.

Alles Taktik. Sie sind weniger zahlreich, stechen aber durch Stoffe hindurch und sind auf Füße, Beine und Arme spezialisiert. Wer behauptet, Mücken wären gegen Abend aktiv? Finnische Mökki-Mücken jagen jederzeit, Hauptsache Schatten. In der Sonne bin ich also am besten geschützt.

Here comes the sun.
Here comes the sun.

Den See teile ich mir mit zwei Singschwänen, fünf Enten und unzähligen, unsichtbaren Fischen. Rundherum sind noch weitere Mökkis am Ufer hinter Bäumen versteckt. Nur manchmal höre ich Stimmen und Lachen über den See schallen.

Zwar kannst du dich laut finnischem Jedermannsrecht frei in der Natur bewegen. Doch es gilt die ungeschriebene Regel, sich nicht näher an ein fremdes Mökki heranzuwagen, als bis zu dem Punkt, an dem Stimmen zu hören sind.

Mein See

Einmal habe ich mein Boot aufs Wasser geschoben, bin vorsichtig hineingeklettert und auf den See hinaus geglitten. Doch wegen der Wasserlilien und anderer Pflanzen haben sich die Paddel immer wieder verhakt, und das Boot bekam Schlagseite. Es ist schnell, gleitet sanft übers Wasser, wirkt aber recht sensibel.

Ich gehe jeden Tag schwimmen. Am schönsten ist es, direkt von der Sauna kommend ein paar Schritte barfuß über das Gras zu laufen und dann ab ins Wasser. Das Ufer ist flach abfallend, der Boden fühlt sich grobsandig an. Immer wieder streifen mich Pflanzen. Auf der Oberfläche flitzen Wasserläufer mit Luftpolstern unter hauchdünnen Beinchen.

Das Wasser erwärmt sich normalerweise im Sommer auf über 20 Grad, doch dieses Jahr hatten sie etwas Pech mit dem Wetter. Just an dem Tag, als ich in Helsinki ankam und die Schule wieder begonnen hatte, wurde es richtig warm. Ich schätze die Wassertemperatur aktuell auf 19 Grad.

Als ich das erste Mal in den See steige, wirkt er so sanft und ruhig und warm im Vergleich zur Nordsee, das Wasser so weich. Doch jedes Mal, wenn ich von der Sauna komme, macht der See einen recht frischen Eindruck auf mich, und das passt.

Einmal, es war mitten in der Nacht auf dem Weg zur Toilettenhütte, höre ich ein kräftiges Plätschern am Seeufer. Wer schwimmt da? Ich leuchte mit der Taschenlampe, sehe jedoch nichts. Ein Elch geht baden? Später höre ich einen der Singschwäne posaunenartige Töne von sich geben.

Gibt es denn Elche?

Gastgeber Pasi hat unlängst einen gesichtet, hier im Wald. Meist freuen Finnen sich weniger über die Begegnung, denn Elche queren die Straßen ohne Rücksicht auf den Verkehr. Und das kann für beide Seiten schlimm enden.

Pasis Frau Jenni hat mich am ersten Tag in Mikkeli abgeholt, und als wir unterwegs auf einsamen finnischen Straßen waren, erzählte sie von ihren bislang glimpflich ausgegangenen Zusammenstößen mit den Riesenhirschen, die bis zu 800 Kilogramm auf die Waage bringen.

Und Bären? Eher in Lappland, doch auch in Ostfinnland kommen sie vor. Nur sieht man die scheuen Tiere eher selten. Auf einem Angeltrip erfahre ich von Fischer Saku, dass auf einer Insel im See Kyyvesi vor mehr als zehn Jahren ein Bär erschossen wurde. Wie der Bär auf die Insel kam? Er hatte kein Boot wie wir, also kraulend. Auch Elche könnten übrigens schwimmen, meint Saku. Aber das hatte ich eh schon vermutet.

Den Sonntag will ich ausschließlich rund ums Mökki verbringen. Meinen ersten und alle weiteren Kaffees am See trinken, essen, wenn ich Hunger habe. Boot fahren, schwimmen, saunieren, lesen und schreiben. Der ideale Mökki-Tag also.

Morgens freue ich mich über den Besuch von Riku, dem ältesten Hund von Jenni und Pasi. Insgesamt haben sie vier davon. Und vier Kinder. Riku hört altersbedingt nicht mehr so gut und merkt erst spät, dass ich ihn begrüße. Erfreut kommt er auf mich zu, stöbert dann noch eine Weile in der Gegend herum und macht sich auf den Rückweg.

Jennis und Pasis Farmhaus liegt etwa 150 Meter hinter meinem Mökki. An der Zufahrtstraße hat der Tante-Emma-Bus am Mittwochmorgen gehalten, eine Art Mini-Supermarkt auf Rädern für alle Bewohner des Seengebietes ohne eigenes Auto. Es ist eher schwierig, hier nicht mobil zu sein.

Supermarkt auf Rädern
Supermarkt auf Rädern

An einem Tag holen Jenni und ich ihre jüngste Tochter Selma von der Schule ab und machen noch einen Abstecher nach Kangasniemi, dem nächsten Ort. So kann ich ein paar Dinge im Supermarkt einkaufen. Mir fällt auf, dass das Angebot an Bio-Lebensmitteln gering ist, doch Jenni meint, es nimmt zu.

Eine Schwester von Pasi produziere zum Beispiel Bio-Säfte, Müsli und Süßigkeiten aus Beeren. Und im Wald ist sowieso alles naturrein! Als wir von unserem Ausflug zurückkommen, fragt die sechsjährige Selma, ob ich noch zusammen mit ihr Himbeeren pflücken möchte. Und ob!

August ist Beerenzeit

So waren wir bereits gemeinsam im Wald und haben fleißig Blaubeeren gesammelt, beziehungsweise direkt verspeist, wie es sich gehört. Die Preiselbeeren sind noch nicht so weit. Aber die Pfifferlinge! Ich brate sie abends in der Pfanne mit Zwiebeln.

Zwei Grills gehören ebenfalls zur Grundausstattung des Mökkis. Doch ich nutze sie nicht, weil der Angelausflug am Samstag leider nicht erfolgreich war. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit im fischreichen Finnland, doch später mehr dazu.

Während ich am See sitze hoppelt ein Eichhörnchen auf mich zu, macht aber eiligst eine Kehrtwende, als ich mich umdrehe. Gut, seine Nachbarn nach und nach kennenzulernen. Dazu gehören auch die schwarzen Ponys, die zwar nicht zu Jenni und Pasi gehören, doch einen Teil ihres Grundstücks beweiden. Die Eltern von Pasi hielten hier früher Kühe.

Das Mökki am See
Pure Meditation

Jenni erzählt mir die Geschichte von einem Gast, der sich erschrak, als eines der Ponys im Wald auftauchte, und die Beine in die Hand nahm. Ponys sind ja gemeinhin nicht mit Braunbären zu verwechseln, es kommt eben immer auf die eigene Erwartung an.

Die Zeit am See vergeht unmerklich. Welcher Tag ist heute? Ein Leben, still und unbewegt wie das Wasser. Beruhigend. Unaufdringlich. Inspirativ. Ich weiß jetzt ein bisschen mehr über Meditation, ohne es angestrebt zu haben. Und es fühlt sich gut an.

Das Eichhörnchen raschelt in den Zweigen, ein Fisch blubbert an der Wasseroberfläche, ein Schmetterling fliegt vorüber. Ich verstehe, dass viele Finnen ihre ganzen Sommerferien im Mökki verbringen.

Es gibt tausende Arten von Mökkis, traditionell-rustikale, kleine wie größere, ein- und zweistöckige, luxuriöse und auch solche, die auf Leute mit Handicaps eingerichtet sind. Es gibt Mökkis, die nur für den Sommer gemacht sind, oder gut isolierte für den Winter.

Wie meditativ das erst sein muss, wenn das Eis knirscht und du wie ein Wasserläufer über den See spazieren kannst.

Text und Fotos: Elke Weiler

Und noch ein Lesestück zum finnischen Sommer: „Der Fluss“ – per Kanu 23 Kilometer über den Naarajoki.


Mit Dank an Visit Finland und Rock & Lake Cottages, die meine meditative Reise unterstützt haben.

17 thoughts on “Das Mökki

  1. Liebe Elke,
    ich sehe und lese schon: Du bist im Paradies gelandet! Jedenfalls im Paradies für Menschen, die den Norden lieben. Ganz entspannt im Hier und Jetzt. Das scheint dort im Mökki ganz einfach zu sein. Danke, daß Du mich für einige Minuten dorthin entführt hast!
    Viele Grüße, Sabine

  2. Ja, Elke, das ist bestimmt ganz toll meditativ, wenn das Eis knirscht – aber Deine Sommereindrücke finde ich viel wunderbarer. Herrlich sieht das aus und ebenso liest sich das. Liebe Grüße, Stefanie

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