In den Hoofjes von Haarlem

Fassaden in den Niederlanden

Auch an meinem zweiten Tag in Nordholland wird nichts aus dem Schlittschuhlaufen auf zugefrorenen Kanälen. Weiterhin milde Temperaturen im Januar, doch heute wirkt es eher herbstlich.

Als ich in Haarlem ankomme, regnet es Bindfäden, und ich sehe die Kanäle vor lauter Wasser nicht. Doch dann passiert ein Wunder. Als ich einen Fuß aufs Trottoir setze, reißt der Himmel auf, und der Vorfrühling kommt zurück. Holland meint es gut mit mir.

Wie bereits in Barcelona nehme ich intuitiv den richtigen Weg, bei manchen Städten ist das so. Als wäre da ein innerer Kompass, der einen automatisch ins Epizentrum lenkt. Dort, wo der Käse ist. Matjes und Kibbeling. Appeltaart met slagroom.

Nun ist Haarlem mit seinen über 150.000 Einwohnern natürlich ein bisschen übersichtlicher als eine katalanische Hauptstadt. Doch an diesem Samstag im Januar steppt der Bär genauso – im Verhältnis gesehen.

Kontraste

Später erfahre ich, dass das normal ist. Dass Haarlem beliebt ist. Dass die Wege in Holland kurz sind. Und dass man gerne mal zum Shoppen oder für einen Aperitif in einer umgebauten Kirche nach Haarlem fährt.

Denn genau wie der Nationalpark Kennemerduinen liegt Haarlem in der Umgebung von Amsterdam, in der sogenannten „Randstad“. Gestern traf ich den Naturguide Harry, der in Haarlem lebt, im Nationalpark arbeitet und am Abend seine Tochter in Amsterdam besuchte.

Erinnerungen an Antwerpen

Holland ist mobil, und auch mit den Öffentlichen läuft es wie am Schnürchen. Haarlem geht zu Fuß oder fährt maximal Rad. Ich laufe also munter drauf los, wundere mich über die Vielzahl der kleinen Boutiquen, freue mich über die fehlende Dominanz großer Ketten und genieße die Atmosphäre zwischen alten Grachten, Gassen, Höfen und Backsteinbauten, die über die Jahrhunderte nie zerstört wurden.

Es dampft das Café.

Haarlem wirkt so lebendig und kuschelig zugleich. Die Cafés sind proppenvoll, auf dem Markt duftet es nach Kräutern und frisch gebackenem Brot, nach Käse und Fisch. Die Leute gehen mit den ersten Tulpen im Arm nach Hause, verlieren sich im Winterschlussverkauf oder hören den Straßenmusikern zu.

Immer wieder erinnert mich Haarlem an Antwerpen. Die Sonne scheint, und ich fürchte, die Museen müssen warten, auch wenn sie noch so toll sind. Doch schon am späten Nachmittag, nach Sonnenuntergang, endet die Fotosession, und ich tue etwas für die Bildung. Auf sehr angenehme Weise, das Ganze nennt sich nämlich kulinarische Stadtwanderung.

Auf dem Grote Markt

Rob ist eigentlich Jurist, vertreibt sich aber gerne die Freizeit mit der Weiterbildung von Touristen und dem geselligen Beisammensein in Lokalen. Und so erfahre ich von ihm, dass Haarlem schon im 16. Jahrhundert eifrig in Kunst und Architektur investierte. Durch seine geografische Lage profitierte es von den Handelswegen am Wasser. Vom Fluss Spaarne. Haarlem ging es damals also recht gut.

Nieuwe Gracht

Im folgenden Jahrhundert bekam es durch flämische Immigranten einen weiteren Schub. Einer der bekanntesten war der aus Antwerpen stammende Maler Frans Hals. Leider ist das ihm gewidmete Museum bereits geschlossen, ich werde den guten Mann wohl ein anderes Mal treffen müssen. Dann stehen wir mitten auf dem Marktplatz, die Buden sind inzwischen abgebaut.

Rob will mir eine weitere wichtige Persönlichkeit der Stadt präsentieren. „Den habe ich heute schon fotografiert“, meine ich, so ganz die Reporterin mit dem sicheren Gespür fürs Wesentliche mimend.

„Fotografierst du immer wildfremde Typen?“ Rob lacht. Es handelt sich um einen Mann mit dem Namen Laurens Janszoon Coster, gebürtig im 14. Jahrhundert, der das Podest auf dem Grote Markt recht raumgreifend ziert. Kein Wunder, dass ich ihn fotografierend musste.

Die Räder fehlen nie.

Er galt in den Niederlanden als Erfinder des Buchdrucks. „Warum sollen sie nicht ungefähr zur selben Zeit im 15. Jahrhundert daran gearbeitet haben?“, meint Rob im Hinblick auf Gutenberg. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Die Hinterhöfe

Interessant finde ich auch, dass Haarlem die älteste noch erscheinende Zeitung vorzuweisen hat: Das „Haarlems Dagblad“ geht auf den 1656 erstmals aufgelegten „Weeckelycke Courante van Europa“ zurück. Rob hat natürlich ein Exemplar vom Dagblad in der Tasche.

Er führt mich in einen Hinterhof. Es ist dunkel, nur die Fenster sind hell erleuchtet, und ich erlaube mir die Indiskretion ins Innere zu schauen. Ich denke an Venlo, wo schon die jugendliche Elke in fremde Fenster schaute.

Ein Hoofje für jeden Typ

Damals galt Holland als liberales Land und Vorbild. Heute sind die Rechtspopulisten leider drittstärkste Partei in den Niederlanden, alles ändert sich. Ich schaue also in die gemütlichen Wohnzimmer meiner Erinnerung, als Rob mich auf ein Fenster aufmerksam macht.

Es hat eine Katzenklappe, die zugehörige Katze nimmt bereits Kurs auf uns. In die Türen darf man die Klappen nicht einlassen – wegen des Denkmalschutzes. Die Hofjes gehen auf soziale Einrichtungen von religiösen Gemeinden oder Gilden zurück.

Schon im Mittelalter sollten sie älteren Frauen im Ruhestand ein selbstständiges Leben ermöglichen. Männer lebten eher in Männerhäusern, weil sie als unselbstständig galten. Das heutige Frans-Hals-Museum in Haarlem war solch ein Altmännerheim.

Da hatten es die Frauen also besser. Kleine Wohnungen gruppieren sich um einen grünen Innenhof, lauschiger geht’s kaum. Robs Lieblingshofje schauen wir uns ebenfalls an – gewusst wo!

Die Ruhe der Hofjes

Durch eine offene Tür gelangen wir in den Proveniershof. Dieser profitiert von der Besonderheit, an ein Kloster herangebaut zu sein. Heute sind die meist aus dem 17. Jahrhundert stammenden Gebäude frei mietbar.

Im Gegenteil zu anderen Hofjes finden sich auch größere Wohnungen darunter, die für Familien geeignet sind. Und Tiere sind hier ebenfalls erlaubt, wie wir eben noch live erlebt haben.

Am schönsten ist diese Ruhe in den Höfen. Man ist mitten in der Stadt, und doch wirkt das Ganze wie eine Oase, wie ein Ort für sich. Wer weiß, welche Geschichten sich hier abspielen. Achtet man aufeinander? Ist es gar zuviel der Nähe?

Auf einen Plausch

Im Sommer, wenn Tische und Stühle draußen stehen, teilt man sich gemeinsam einen Kuchen… Apropos Essen: Wir steuern für die Vorspeise Lokal Nummer 1 unseres „kulinarischen“ Rundgangs an.

Mitten in den Gassen der City: das „Subliem“ mit mediterraner Küche. Wir ordern vegetarisch, lassen uns aber zu einer großzügigen Salat-Grillgemüse-Wasabi-Lachs-Komposition überreden, dazu köstliches Fladenbrot mit Öl und einem Hauch von Knoblauch.

Eigentlich bin ich danach satt. Und wenn man den hundertjährigen Japanern auf der Insel Okinawa glaubt, gehört Essen bis zur Sattgrenze zu ihrem Erfolgsrezept – neben Lachen, Tanzen, Geselligkeit.

Nightlife in der Ex-Kirche

Also rennen wir noch eine Weile kreuz und quer durch das nächtliche Haarlem, nicht nur um Appetit zu kriegen. Rob will einfach noch einiges über seine Lieblingsstadt und das Leben hier loswerden. Etwa Dinge wie: „Die Holländer ziehen wegen des Jobs nicht um, sie sind viel zu ortsgebunden.“

Es wird Abend in Haarlem.

Außerdem erlauben die geringen Distanzen das. So arbeitet Rob zum Beispiel in Den Haag, und viele Haarlemer führen täglich nach Amsterdam. „Das sind zehn Minuten mit dem Zug.“

Zum Ausgleich kommen die Leute dann aus den anderen Städten, um im Haarlemer „Jopen“ auszugehen, eben jene ehemalige Kirche, nun als Nightlife-Spot schwer angesagt. Wir gehen ins „Dijkers“, eine Mischung aus Café, Restaurant und Kneipe, und ich muss wieder an die Japaner denken.

Nur noch eine Kleinigkeit, bitte! Aber es sollte etwas Typisches sein. Bittergurke gibt es hier nicht, darauf schwören ja die Leutchen aus Okinawa. Aber Bitterballen!

Und morgen, morgen gibt es endlich Käse aus Holland. Morgen fahre ich nämlich nach Beemster, das dem Hörensagen nach einen ausgezeichneten Käse produziert. Ich bedanke mich bei Rob, und er bei mir: Es sei sehr gesellig gewesen. Fehlt nur noch der Tanz, und dann wär‘ es fast so gesund wie Okinawa, dieses Haarlem.

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an das Niederländische Büro für Tourismus & Convention, I amsterdam und Nordholland, die diese Reise ermöglicht haben.

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