Das wilde Halligleben

Hooge

Umzingelt vom Meer. Auf einer Hallig ist eben alles anders. Das Meer ist stets präsent, sein Duft in jedem Winkel. Und manchmal klopft es an die Haustür – vielleicht schon bei der nächsten Sturmflut.

„Wir haben ja den Sommerdeich“, meint Jennifer und weist auf die schützende Erhebung vor der Wasserkante. Steigt das Wasser 1,50 Meter über das mittlere Tidenhochwasser, wird die Hallig trotzdem geflutet. Im Sommer ist das eher selten, denn die Zeit der Stürme beginnt im Herbst.

Und Sorgen um ihr Hab und Gut müssen sich die Hooger meist nicht machen, liegen ihre Häuser doch auf Warften – Erdhügel, die bei Hochwasser als einzige aus dem Meer ragen.

Doch die Sturmflut von 1962 hat auch Hooge nicht verschont, die Häuser standen unter Wasser. „Danach ist viel neu gebaut worden“, sagt Bauer Hartwig vom Bingehof. Er war damals vier Jahre jung, und das reetgedeckte Haus, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte, existiert heute nicht mehr.

Jennifer kennt sich aus.

Denn in den Jahren darauf gab es günstige Kredite für Neubauten, nicht aber für die Renovierung. In einem der 60er-Jahre-Häuser wohnt Jennifer Timrott mit ihrem Mann. Und sie sorgt dafür, dass ich mich zum ersten Mal nicht wie eine Touristin auf der Hallig fühle.

Wir sitzen auf einer Bank mit Blick aufs wilde Halligleben. Kurz nach 12 Uhr düsen die Küstenarbeiter per Motorrad über den schmalen Weg. Mittagessen. „Sie sind heute spät dran.“ Jennifer feixt. Eine Hallig ist eben doch nur ein Dorf. Schlimmer sogar, meinen die einen. Besser, die anderen. „Durch die Warften kann man sich aus dem Weg gehen“, findet Hartwig Binge nämlich. Und krault seine Ziege Waltraud. Auf Hallig Gröde sei das anders – mit 17 Einwohnern die kleinste Gemeinde Deutschlands.

Zeit für Waltraud

Auf meiner Fahrt durchs nordfriesische Wattenmeer habe ich Gröde am Horizont gesehen. Nichts als ein Erdhaufen im Wasser mit ein paar Häusern und Bäumen drauf. Und gerade deswegen eine kleine Sensation.

Mitten auf Gröde ist das Meer nur drei Minuten entfernt. Und dort klopft es nicht drei Mal pro Jahr an, sondern – je nach Wetterlage – bis zu 100 Mal im Jahr an. Doch es zieht sich schneller wieder zurück. „Auf Hooge bleibt das Wasser länger“, weiß Jennifer, die mit ihrem Mann vor zwei Jahren auf die Hallig gezogen ist.

Denn beim Ablaufen steht der sogenannte Sommerdeich im Weg. An Sturmflut ist an diesem Augusttag nicht im Traum zu denken, auch wenn es schon Sommerstürme gab. Wir schauen über die Fennen zu den Schafen und Kühen. Alles wirkt frisch, prall, gesund.

Wenn Namen wegweisend sind.

Auf dem Weg zur Warft mit dem wunderbaren Namen Mitteltritt überholen wir bayerische Touristen. Da wir aus unbekannten Gründen nicht wie Gäste wirken, werden wir auf die Kühe angesprochen. Jennifer klärt auf, soweit sie kann: „Das ist Pensionsvieh und wird nicht gemolken.“ Pensionsvieh, die Bayern sind begeistert.

Dann outet Jennifer sich als Nichtexpertin in Sachen Rind, als Hobbyornithologin könnte sie schon eher behilflich sein. Hooge gilt ja als das reinste Vogelparadies. Doch diesbezüglich wollen die Gäste nicht nachhaken.

Im Frühsommer zieht Jennifer gerne mit dem Nationalparkranger aus Schlüttsiel los und hilft beim Monitoring der Zugvögel. „Das sind die Tage, für die es sich zu leben lohnt.“

Kein Zugvogel.

Die ehemalige Informationsarchitektin Jennifer macht es auch glücklich, neben zahlreichen Ringelgänsen auch eher ausgefallene Exemplare zu sichten. Und zwar direkt vor ihrem Fenster mit Blick auf den Fething.

Seidenschwanz und Wendehals? Ich muss passen. Einen Austernfischer erkenne ich ohne Probleme, davon laufen uns einige vor die Füße oder ziehen meckernd durch die Luft. Und nun weiß ich, wo ich mich weiterbilden kann.

Mit Freunden von anderen Halligen bestückt Jennifer nämlich den Blog „Warftworte“. Dort finde ich „Haupt- und Nebensächlichkeiten von den Halligen“, Aktuelles, Ringelgänse, Bachstelzen und immer wieder Stimmungsbilder, die mehr als Worte sagen.

Allen geht’s gut.

Jennifer zeigt mir den Fething. Das Becken für Regenwasser diente einst dem Halligvieh als Tränke. Aus neuerer Zeit sind die Hubschrauberlandeplätze vor jeder Warft, zwei simple weiße Markierungen auf dem schmalen Weg.

Lebenswichtige Striche, wenn jemand schwer erkrankt. Einen Arzt gibt es auf Hooge nicht, so wird Jennifers Mann Frank als einziger Krankenpfleger auf der Hallig schwer geschätzt. Ansonsten zählt, wer Haus und Grund besitzt. Bauer Hartwig also, der auf dem alten Familiengrundstück wohnt.

Der neben Schafzucht und Hofladen auch noch die Müllabfuhr auf Hooge regelt, in der Gemeinde arbeitet und Ferienwohnungen vermietet. „Mehrere Jobs sind auf Hooge normal“, weiß Jennifer. Gerade fährt das gelbe Postauto vorbei, und ich erfahre, dass der Postbote ebenfalls Landwirt ist.

Kunst auf Treibholz

Frank und Jennifer haben ein Buch über die Halligen geschrieben und mit ihren Fotos bestückt, die mir schon bei Facebook aufgefallen sind. So ging es wohl auch dem Verleger, weshalb er den beiden die Sache mit dem Buch nahelegte.

Zudem sammelt Jennifer Treibholz und bringt ihre Halligfotos per Hand auf das Holz – ich liebäugele schon mit einem maritimen Motiv. Doch dann lande ich erst mal bei Bauer Hartwigs Cousine. Karen Tiemann führt gemeinsam mit ihrem Mann das Café „Zum Blauen Pesel“ auf der Backenswarft.

Ich probiere nach dem köstlichen Heidelbeer-Mandelbaiser auch noch ein Stück Zucchini-Schokokuchen und bin pappsatt. Über mir ziehen schwarze Wolken in Richtung Festland und verschonen uns. Nur ein paar Tröpfchen fallen mir in die heiße Schokolade.

Zeit für Heidelbeer-Baiser

Auf das Wetter scheint hier noch weniger Verlass zu sein als auf dem nordfriesischen Festland. Der Wind ist windiger, der Sturm stürmischer und die Menschen… Ja, wie sind die Hooger denn so?

Netter? Rauer? Die Hallig gilt als Mikrokosmos. Doch wie Hartwig schon meinte, trägt die gefühlte Weite und die Verteilung auf die Warften zur Entspannung bei. Nur auf der Hanswarft sei immer etwas los, mit Kaufmann, Gemeindebüros und diversen Lokalen das soziale Zentrum, das Herz der Hallig.

„Halligbewohner sind mehr aufeinander angewiesen“, weiß der Landwirt. Wenn es darum ginge, aneinander zu helfen, rückten Streitigkeiten sofort in den Hintergrund. „Hier ist keiner nachtragend.“

Streit? Nö!

Auf dem Festland könnte Hartwig nicht leben. Er liebt den Blick in die Ferne und die Stürme im Winter, wenn das Wasser über den Deich schwappt. Und wenn sich alles in Weiß hüllt, macht der Schnee zwar viel Arbeit. Doch das Erlebnis sei jedes Mal einzigartig.

So hat Hartwig festgestellt, dass auch immer mehr Gäste im Herbst und Winter auf die Hallig kommen. „Sie wollen sich einfach mal den Wind um die Nase wehen lassen und die Ruhe genießen.“ Im Sommer ist wegen der Tagestouristen eben wesentlich mehr los.

Sonja Daubner hat das zwei Wochen lang erlebt, Zwei Wochen hat sie Tag für Tag den umstrittenen Hallig-Taler am Bootsanleger kassiert. Ein Euro von jedem Tagesgast, der der Gemeinde finanziell helfen soll.

Lieblichkeit des Sommers

Die Realschullehrerin aus Bayern verfiel der Hallig schon vor Jahrzehnten. Immer wieder kam sie zum Urlaub zurück. Nun nimmt sie bereits zum zweiten Mal am Projekt „Hand gegen Koje“ teil.

Der Name leitet sich aus der Seefahrt ab. Für die Zeit der intensiveren Teilnahme am Halligleben müssen vier bis sechs Stunden pro Tag einfache Arbeiten verrichtet werden: Bürotätigkeiten, Rasenmähen, Unkraut jäten. Vor allem aber geht es um das Kassieren der Kurabgabe für Tagesgäste.

„Man bekommt einen Blick hinter die Kulissen“, erzählt Sonja, die sogar mit dem Gedanken liebäugelt, sich ganz auf Hooge niederzulassen. Nur hier kommt sie so richtig runter, fällt aller Stress von ihr ab. Das Meer, die Einfachheit der Natur, die Ruhe.

Der letzte Krabbenkutter

Wir stehen am Bootsanleger, um die letzte Fähre zum Festland zurückzunehmen. Die Hallig leert sich. Nicht nur die letzten Tagesgäste verschwinden, auch viele Hooger sind weg. Auf der Nachbarhallig Langeneß geben nämlich die sogenannten Seemansrocker von Santiana ein Konzert. Hartwig und Karen haben schon mit dem Extra-Schiff übergesetzt.

Im Winter ist die Mobilität der Hooger wesentlich stärker eingeschränkt. Dann ist donnerstags grundsätzlich Festlandstag, man kauft drüben ein oder trifft sich bei den Ärzten. Denn nur am Donnerstag bringt sie das Schiff auch wieder zurück.

Das ist die Zeit, in der Jennifer gerne häufiger am kulturellen Leben auf dem Festland teilnehmen würde. Selbst eine kleine Stadt wie Husum wirkt da verlockend. Andere Leute treffen, im Café sitzen, ins Kino gehen.

Privatmuseum

Auf der Hallig wird das Miteinander intensiver. So kommt es, dass sich Hartwig neben seinen vier Jobs und dem Engagement vom Boßel- bis zum Segelverein auch noch zum Theaterspieler mausert.

Im Winter studiert die Truppe jedes Jahr ein neues Stück auf Plattdeutsch ein, das mit dem Neustart der touristischen Saison auf Hooge erstmalig zum Besten gegeben wird. Das hat seit den 60er Jahren Tradition, als seine Mutter schon Theater spielte. Anfangs führten die Hooger ihre Stücke noch für sich selbst auf.

Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf, als ich mit Sonja zurück zum Festland düse. Ihre Halligwochen sind vorbei, sie sitzt auf dem Boot und strickt. Ich schaue aufs Meer, das kann ich stundenlang tun.

Halligmeer

Ein Fingerschnipp, und die Schnellfähre legt wieder in Nordstrand an. Obwohl ich selber auf einer Halbinsel wohne, ist alles anders auf Hooge, intensiver. Dafür verlangt es seinen Bewohnern auch einiges ab.

Doch wen die Hallig einmal hat, den lässt sie nicht mehr los.

Text und Fotos: Elke Weiler

Die letzten „Dorfgeschichten“ von Meerblog führten nach Dozza, das Dorf mit den wohl schönsten Wänden der Emilia Romagna sowie ins feudale Panker nach Ostholstein.

18 thoughts on “Das wilde Halligleben

  1. Habe gerade deinen Blog und speziell diesen Bericht entdeckt. War schon sieben mal auf Hooge, zuletzt über Weihnachten 2013. Bin der Hallig verfallen. Ja, kaum bin ich weg, will ich wieder hin. Orte und Personen in deinem Bericht, (fast) alle(s) bekannt. Danke fürs Erzählen und auch die Fotos, sehr gut! Gruß Uwe

  2. Danke, Uwe, freut mich sehr! Ich kann dich verstehen, fände es auch interessant, mal für eine Weile dort zu leben und tiefer in den Hallig-Kosmos einzusteigen…

  3. Hallo, habe gerade den herrlichen Blog über die Hallig Hooge entdeckt und habe gleich Fernweh bekommen. Ich war schon mehrmals 4 Wochen im Herbst da und freue mich immer wieder sehr auf das nächste Mal. Nur noch 5 Jahre, dann habe ich den Berufsalltag hinter mir und kann mal ganz lange auf diesem ganz besonderen Fleckchen Erde sein. Danke für den schönen Bericht und die stimmungsvollen Bilder …

    1. Das ist schön, Odette, danke dir! Kann ich gut verstehen, es muss schon etwas ganz Besonderes sein, dort auf der Hallig zu leben. Mit jedem Wetter, und natürlich auch bei Sturmflut. Und dann, wenn es ganz ruhig ist, und man die Geräusche des Meeres überall hört…. :-)

  4. Moin Elke, ich liebe auch die nordfriesische Insel-und Halligwelt. Das macht Schleswig Holstein einmalig und für mich (mit) zum schönsten Bundesland.
    Ich bin erst einmal für wenige Stunden auf Hooge gewesen. Vor über 35 Jahren, ein Tagesausflug von Amrum.

    Es gibt zwei schöne Bücher über Hooge (Barfuß auf dem Sommerdeich und Frische Brise auf dem Sommerdeich) von Katja Just. Katja Just ist 2000, im Alter von 25 von München nach Hooge gezogen.

    Man erfährt viel über das Alltagsleben, die Bräuche und die Menschen……..

    vg aus Hamburg, kv

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