Die Insel der Möwen

„Wir umrunden den Fluss“, sagt er zum wiederholen Male, damit mir das Aberwitzige an dieser Sache bewusst wird. Ich sitze in Knuts Boot, vielmehr stehe ich neben ihm. Normalerweise umrundet man ja eher Inseln auf dem Wasserweg, aber wenn Knut meint, dann eben einen Fluss. Tatsächlich fahren wir mal gegen, mal mit dem Strom durch die Schärenlandschaft, bis wir aufs offene Meer hinaus müssen.

Genau diese Stelle ist naturgemäß recht schaukelig, und der Hund versucht dem Steuermann bellend Anweisungen zu geben. „Pass auf!“, scheint Julchen ihm klarmachen zu wollen. „Und stell bloß die Wellen ab!“ An einen schaukelnden Untergrund, den er nicht kontrollieren kann, ist der Hund nicht gewohnt. Und doch scheint Jule dem Skipper zu vertrauen, strahlt er doch seemännische Ruhe aus. Sie weiß, dass unser Leben in den Händen des Steuermanns liegt. Pragmatisch, wie sie ist, hält sie sich an ihn.

Knut und Julchen
Knut und Julchen

Derweil bin ich froh, dass wir endlich im Boot sitzen. Dass wir überhaupt im Boot sitzen. Fast wäre die ganze Planung den Bach respektive die Straße hinunter gegangen. Die, auf der Ente Emilia nicht mehr weiterfahren wollte. Zwischen Grimstad und Arendal streikte sie nach dem Tanken.

Wie es mir auf dieser Reise schon zur Gewohnheit geworden ist, bat ich den nächsten verfügbaren Autofahrer um Starthilfe. Der jedoch meinte, ein Starthilfeversuch mit Kabeln würde die Elektronik seines Autos ruinieren. Unnütz der Versuch, ihm von den bisherigen erfolgreichen Hilfeleistungen auf meiner Tour zu berichten. Kein einziger Wagen kam dabei zu Schaden.

Ein zweiter Autofahrer kommt ungefragt hinzu, und gemeinsam wollen sie Emilia anschieben. Die Acadiane gibt keinen Mucks von sich. Helfer Nummer 2 bittet mich zu warten, damit er ein anderes Auto für die Starthilfe holen kann, ein älteres Modell. Interessante Geschichte, denke ich und bedanke mich. Doch langsam kommen mir ernsthafte Zweifel.

Ich rufe meine Kontaktfrau in Arendal an, Monica, die mir weitere Hilfe durch ihren Mann verspricht. Der Ladeversuch mit dem älteren Modell von Helfer Nummer 2 scheitert. Ich rufe den ADAC an, der mich darauf aufmerksam macht, dass Norwegen ein teures Land ist. Es geht um die Selbstbeteiligung. Nachdem er den Fall und unsere aktuelle Position bis in kleinste Detail aufgenommen hat, wünscht er mir „weiterhin gute Fahrt“. Hilfe käme in etwa einer Stunde.

Der Wärter wartet

Ich frage mich, ob wir unseren Roadtrip genau an dieser Stelle abbrechen müssen, mitten auf der Strecke. Ob wir unsere Nacht auf der Leuchtturminsel knicken können. Und Mittsommer in Schweden? Ich sage zum Mann meiner Kontaktfrau, der inzwischen eingetroffen ist: „Ich glaube das alles nicht. Irgendetwas ist schief gelaufen. Wir sollten es wenigstens noch einmal versuchen.“

Store Torungen
Store Torungen

Als ich die Kabel anlege und den Motor starte, springt die Ente an! Fast wäre ich Monicas Mann um den Hals gefallen, der mir lässig und ohne jeglichen Einwand sein Auto zum Aufladen zur Verfügung gestellt hat. Diese Freude! Nun aber nach Arendal, Knut wartet im Hafen auf uns. Dort kann ich Emilia abstellen. Als Parkgenehmigung dient ein handgeschriebener Zettel vom Monica. Ich muss grinsen. Das Leben in Norwegen erscheint mir unkompliziert, lässt man die Technikwunder auf vier Rädern beiseite.

Der Leuchtturm wird bereits sichtbar, als wir aufs Meer hinaus schippern: Store Torungen fyr. Er leuchtet, während Lille Torungen fyr auf einer Nachbarinsel leider außer Betrieb ist. Knut outet sich als Mitglied im „Norsk Fyrhistorisk Forening“ zur Rettung der Leuchttürme: Der Verein will die Inseln touristisch nutzbar machen. „Seine“ Leuchtturminsel bewohnt Knut Mørland seit 2003 – das Jahr, in dem er nach einem schweren Unfall genesen musste. Das Jahr, in dem die Leuchttürme von Menschenhand auf Automatik umgestellt wurden.

Kaffee für alle

Die Leuchtturmwärter, die sommers wie winters auf den Inseln gelebt hatten, protestierten umsonst. Doch bevor die Insel ganz in den Besitz der Möwen überging, kam Knut, der neue, etwas andere Wärter. Und er hatte einen Plan. „Immer, wenn die Fahne gehisst ist, wissen die Leute, dass ich da bin. Es gibt Kaffee für jeden.“ Das gilt für alle, die mit dem Boot vorbeischippern. Dann sind da noch die Touristen, die eine Nacht bleiben. Oder ganze Schulklassen.

Im Leuchtturm

Als wir die Insel erreichen, tönt Musik übers Wasser. Menschen lachen, es wird getanzt. Zur Saisoneröffnung spielt eine Folklore-Gruppe der Gegend auf, es ist wie Magie unterm Turm. Man offeriert mir Kaffee und selbstgebackenen Kuchen. Ich lerne Wenke von „Spelemannslag“ kennen. Wie die Meisten der Gruppe spielt sie eine Hardangerfiedel und erklärt mir die Besonderheiten des Instruments. Typisches südnorwegisches Liedgut wird aufgespielt, schwedische Lieder und sogar Dixie Jazz.

Die Party von oben.

Manchmal tanzen sie eine Art Polka. Ich fühle mich schon wie an Mittsommer, da sind die Norweger den Schweden wohl zuvor gekommen. Das Wetter, ein Traum. Der Sonnenuntergang will nicht enden, die Gäste wollen nicht gehen. Knut bringt die Letzten zurück nach Arendal und angelt auf dem Rückweg noch flott fünf Makrelen.

Frische Makrelen

Während ich versuche, mich in einem der alten Wächterhäuser häuslich einzurichten, filettiert er die Makrelen, brät sie in Butter und würzt sie mit Zitrone und Pfeffer. Dazu gibt es neue Kartoffeln und Gurkensalat. Wir speisen draußen, auch wenn es langsam etwas frisch wird. Sonst stimmt alles: das Licht, der Leuchtturm und die vermutlich besten Makrelen der Welt.

Store Torungen fyr verändert sich im Laufe des Tages, besonders am Abend scheint er zu strahlen. Knut mahnt uns, nicht überall hinzulaufen wegen der Zugvögel. Auch wegen der Möwen müsste ich aufpassen. Sie haben Junge, und diese sind hier und da in versteckten Löchern auf dem Boden zu finden. Eines trägt Knut heran, es hat gerade das Innere einer Muscheln im Maul.

Makrelen à la Knut
Makrelen à la Knut

Den Rest unserer Makrelen wirft er den erwachsenen Möwen hin, was für die größte Aufregung des Tages auf der Leuchtturminsel sorgt, ein einziges Geschrei und Gezeter. Und weil ich mir ein wenig nutzlos vorkomme neben Knut, der kocht, aufräumt, spült, macht und tut, frage ich ihn: „Wie kann ich helfen?“ Jobs gibt es immer! Die Fahne müsste hinunter, das sei Vorschrift in Norwegen.

„Kein Problem“, meine ich und gehe ans Werk. Es ist wirklich leicht, die Fahne hinunterzurollen, doch wie mache ich sie fest, ohne dass sie im Wind flattert? Soll ich die Kordel irgendwie darumwickeln? Also zurück zu Knut und nachhaken. Er kommt hinaus und sieht sich mein halb fertiges Werk an.

„Du hast so was noch nie gemacht, stimmt’s?“ Ich nicke. Mit Fahnen kenne ich mich überhaupt nicht aus. Knut lacht und zeigt mir, wie man es richtig macht: Die Fahne muss nämlich ganz abgenommen werden! Falls ich in meinem Leben noch einmal die Ehre haben werde, eine norwegische Fahne einzusammeln, weiß ich also Bescheid.

Der Hund hat zwar Freundschaft geschlossen mit Knut, möchte aber auf jeden Fall mit mir im Gästehaus übernachten. Und so haut Julchen dem Wächter einfach ab, steht plötzlich vor meiner Tür. Wir beratschlagen die Sache, und Knut erteilt die Erlaubnis, dass Julchen ins Wohnzimmer meiner Hütte darf. Ich bin ebenso kompromissbereit und richte mich dort auf dem Sofa ein, damit der Hund sich nicht ausgeschlossen fühlt.

Möwenrufe & Wellenrauschen

Es wird langsam dunkel. Ein bisschen fühle ich mich wie in der Wildnis Panamas. Wo die Embera abends für uns gekocht hatten, wo ich in einer Hängematte (nicht) schlief und morgens im Fluss badete. Auch auf der Leuchtturminsel gibt es keine Dusche für die Gäste, doch sie können im klaren, frischen Meer baden.

Der Hund schläft schon tief und fest, während ich noch schreibe. Es war alles recht aufregend für Julchen. Ihre erste Tour mit einem schnellen Schlauchboot, dabei ist Knut extra langsam gefahren. Was er übrigens auch schon für andere VIPs getan hat. Dann selbst royale Mitfahrer können Angst haben!

Irgendwie kann ich Knut verstehen, der sein Leben auf dem Festland hat, aber nach wie vor viel Zeit auf der Insel verbringt. Dieses überschaubare Fleckchen Erde, seine Abgeschiedenheit, das stete Geschrei der Möwen, das Rauschen der Wellen. All das erdet. Auch auf den Hund hatte Store Torungen diesen Effekt. Julchen freute sich über die norwegischen Weisen, untersuchte die Taschen der Musiker und wälzte sich genüsslich im Gras. Der Lärm der Welt vom Meer verschluckt.

Schade nur, dass Jule nicht jeden Grashalm umdrehen durfte, jedes Erdloch untersuchen konnte. Dass diese Insel schon den Möwen gehört. Der Hund schnarcht ein bisschen in die helle Nacht hinein. Am frühen Morgen wecken mich die Sonnenstrahlen im Gesicht, und ich laufe zum Plumpsklo am Hafen.

Die Möwen sind ruhig, das Meer auch. Es wird ein schöner Tag werden. Wir frühstücken noch gemeinsam mit Knut, dann springt Mademoiselle Julie freiwillig ins Boot. Sie scheint den Rückweg regelrecht zu genießen. Fahrtwind im Plüsch, die Nase nach oben gestreckt.

Skipperhund
Skipperhund

Wird aus Julchen doch noch ein Skipperhund? Und wie wird es mit Emilia weitergehen? Wir wollen nach Risør fahren, einer wunderschönen weißen Stadt am Skagerrak…

Text und Fotos: Elke Weiler

Viele der Leuchtturminseln stehen in Südnorwegen auch Urlaubern offen und sind beliebt für Übernachtungen – auch im Winter!

Mit Dank an Visit Southern Norway, die diesen Teil unseres Roadtrips unterstützt haben.

15 thoughts on “Die Insel der Möwen

  1. Oh wow, das klingt wunderbar! Das ist ja mein Traum, eine Nacht auf einer Leuchtturminsel… Habe mir Artikel und den weiterführenden Link gleich mal abgespeichert. Vielleicht wird’s ja nächstes Jahr was… ;)

  2. Wow, tolle Bilder! Wir waren dieses Jahr in der Nähe des Hardangervidda-Nationalparkes im Süden von Norwegen unterwegs und waren von der Natur dort ebenfalls wirklich beeindruckt.

    Der Leuchtturm erinnert mich ein wenig an die schwedische Geschichte „Den sista Fyrvaktaren“ – da geht es um einen grummeligen, alten Leuchtturmwächter, bei dem plötzlich eine quirlige Frau auftaucht und sein Leben auf den Kopf stellt :D Für Schwedisch-Anfänger sehr empfehlenswert!

    VG,
    Coco

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