Meine Tage in Rio

Jeder hat mehrere Leben. Manchmal bleiben sie unentdeckt, schlummern im Verborgenen. Manchmal bekommst du einen Vorgeschmack, sozusagen einen Gruß aus der Küche deiner Möglichkeiten. Du kannst sie nicht alle haben, diese Leben. Denn du müsstest eines aufgeben, um ein anderes zu beginnen, das sich vielleicht in Rio de Janeiro abspielt…

Ich sitze in einem Hochhaus, sechster Stock, Copacabana. Die Wohnung ist zirka 60 Quadratmeter groß, unterteilt in kleine Abschnitte, nur das Wohnzimmer lässt etwas Raum, um sich zu bewegen. Dort hocke ich auf der Couch neben Tommy. Dabei verstanden wir uns nicht auf Anhieb, das muss man sagen. Tommy übte sich zunächst in Zurückhaltung.

Überall hängen Schilder. Die Türe zum Bad sollen wir zum Beispiel hinter uns schließen, sonst würde Tommy dort auf den Teppich pinkeln. Er sieht mich mit großen Augen an und straft alle Zettel Lügen. Wir haben einen Pakt: So lange der Kater genug Aufmerksamkeit bekommt, ist alles im grünen Bereich.

Und dass ich ja nicht ins Schlafzimmer verdufte! Dann klopft Tommy an die Tür, springt davor. Er weiß längst, wie man Türen öffnet. Zumindest die vom Schlafzimmer kriegt er locker auf. Dann finde ich ihn an seinem Lieblingsplatz hinter dem Bambusrollo im Regal. Beim ersten Mal hat er mich noch überrascht, erschien plötzlich auf der Bildfläche und nagte an meinem Laptop.

Verdächtige Geräusche

Mitten in der Nacht höre ich Stimmengewirr wie von einer Party, dazwischen die heiseren Rufe eines Mannes. Direkt hinter dem Haus geht es steil bergauf, alles ist mit dichtem Grün bewachsen. Wo kommen die Geräusche her? Gibt es eine Favela über uns oder nur den Park? Weiter oben, wo die Rua Santa Clara endet, führen Treppenstufen den Berg hinauf. Doch ich folge ihnen nie.

Nur mit offenem Fenster
Nur mit offenem Fenster

An manchen Tagen höre ich die Hiphopper proben, doch meist nur den Regen. Lakonisch, das ewige Tröpfeln. Die Schiebefenster der Wohnung sind nie geschlossen, und die Temperatur geht nie unter 20 Grad. Meist liegt sie trotz des Wetters eher bei 28. Die Blätter der Pflanzen glänzen silbrig, alles ist feucht, und langsam zieht die Nässe in die Kleider.

Ich muss raus, an den Strand, mir fehlt die Weite. Doch bei den ersten Sonnenstrahlen zieht es die halbe Stadt dorthin, die Strände platzen aus allen Nähten. Rio vibriert bei Tag und Nacht. Auch wenn sie uns geraten haben, nach Sonnenuntergang nicht mehr allein über die Straßen Rios zu schlendern: Auf der Rua Santa Clara fühle ich mich sicher.

Ipanema
Ein Stück Strand für mich

So schwärmen wir aus. Zusammen mit Nicole vom Freibeuter-Blog erkunde ich Stück um Stück der Umgebung. Eigentlich sollte ich eine Unterkunft in der Favela Vidigal mit bestem Blick auf Leblon und Ipanema beziehen, doch meine Gastgeberin hatte es sich anders überlegt und ihr Angebot kurzfristig zurückgezogen.

Im Zentrum

So halte ich mich meist in den flachen Gebieten der Stadt auf, obwohl die Hügel besser belüftet sind. Hängen Wolken über der Stadt, steht die Luft unten. Die Großartigkeit, die Schönheit von Rio siehst du vor allem von oben. Und es wirkt fast zynisch, dass die Favelas auf den Bergen liegen.

Rio de Janeiros Zentrum
Im Zentrum

Nirgendwo in Rio spürt man die Gegensätze zwischen Arm und Reich so stark wie im Zentrum. „Geht am besten nicht dorthin, wenn die Geschäfte geschlossen sind“, hatte Mitbewohnerin Hanna gewarnt. Deshalb stürzen wir uns werktags mitten in den Trubel, das geschäftige Treiben. Ganz Rio scheint im Zentrum zu arbeiten.

Zwar duckt sich das eine oder andere historische Häuschen zwischen die Skyscraper, doch viel ist von der Altstadt nicht geblieben. Das Kaffeehaus aus dem 19. Jahrhundert wirkt wie Wien in der Diaspora, die Confeitaria Colombo in der Rua Gonçalves Dias.

Ein Zeitsprung in eine andere Welt. Doch holt mich die Realität auf meinem Teller zurück ins Hier und Jetzt. Ich kenne und liebe die Pasteis de Nata in Lissabon. In Rio kombinieren sie Nationalgetränk und Puddingteilchen zu einem Pastel de Caipirinha.

Der Kaffee ist besser als üblich in Rio. Nur das Klacken der Ventilatoren übertönt das Stimmengewirr, und ich merke mal wieder, wie stimulierend die Atmosphäre in einem Café ist. Businessleute, die sich angeregt unterhalten. Konservativ elegante Damen in Seidenblusen und mit riesigen Ohrringen.

Überdimensionierte Spiegel in hohen Räumen, Kellner in blütend weißen Hemden, teilweise blasiert, teilweise der reinste Sonnenschein. Die Handtaschen der Damen, die es sich leisten können, hier ihr Lunch einzunehmen, werden mit einem Plastikband am Stuhl festgezurrt. Ein distinguierter älterer Herr allein am Tisch – vielleicht brütet er über seinem nächsten Roman?

Neben der Confeitaria mag ich noch einen Ort im Zentrum: die graue Pyramide. Genauer gesagt, die „Catedral Metropolitana de São Sebastião“ auf der Avenida República do Chile. Architekt Edgar de Oliveira da Fonseca erinnert mit dem Bau an eine Mayapyramide im mexikanischen Yucatán.

Schwungvoll einen sich zwölf Seiten zu einem Rund, das Grau des Betons aufgebrochen durch vier durchfensterte Stellen. Nach dem Besuch der Confeitaria ist es für mich das zweite Mal an diesem Tag, dass ich Großzügigkeit im Raum spüre. Obgleich die Wände wie Waben wirken, durch die ein Minimum an Licht dringt. Das Grau des Betons ist unverhüllt, einzige Zierde im Raums das bunte Licht, das durch die vier Fensterseiten dringt.

Meine Tage in Rio sind zu kurz, die Stadt zu groß. Wenn du sie hasst, die große Stadt, wenn dich ihr Gewimmel zermürbt, zieht sie einen Trumpf nach dem anderen aus dem Ärmel. Die Parks. Das wuchernde Grün, das sich zwischen den Beton drängt. Das Meer. Die bergige, fast schon bizarre Landschaft, die die Stadt umarmt, ihr Häusermeer durchbricht.

In Santa Teresa

Der Jardim Botânico ist so eine Oase, wenn Rio zu lärmend, zu aufdringlich wird. Das Viertel Santa Teresa, das dich mit seiner Intimität einfängt. Auf dem Hügel liegend, war es einst der Zufluchtsort entlaufener Sklaven, später Bezugspunkt europäischer Auswanderer. Niedrige bunte Häuser von der Jahrhundertwende und kurvige Straßen überall.

Vor einiger Zeit erlebte das heruntergekommene Viertel eine Wiederbelebung durch Künstler*innen und mausert sich nun zum Liebling der Bohème. Kleine Lokale, Kunst und Kunsthandwerk, nette Cafés und Restaurants, Street Art. Am letzten Tag entdecke ich es und weiß sofort: Beim nächsten Besuch werde ich meine WG in Copacabana gegen eine Bude in Santa tauschen, wie die Einwohner liebevoll sagen.

Ich hoffe, Tom Cat wird es mir verzeihen! Auch der Strand ist dann nicht mehr fußläufig erreichbar. Doch ich kann mit der alten Bonde, der offenen, gelben Tram über die Lapa-Bögen ins Zentrum zuckeln. Und muss dabei an Lissabon denken, eine der schönsten Städte der Welt.

Was viele auch von Rio behaupten. Ja, seine großartige Lage zwischen Meer und Regenwald gibt ihnen recht. Jedenfalls würde ich Rio nicht verschmähen und mir mein Leben in etwa so vorstellen: Ich hätte eine Wohnung in Santa Teresa mit einem phänomenalen Blick auf Stadt und Meer. Und ich würde Kleider entwerfen und in einem der kleinen Läden verkaufen.

Bunte, kurze Kleider, die man in Rio ganzjährig tragen kann. Einige im Sixties-Style. Perfekt für eine Samba.

Text und Fotos: Elke Weiler

Im nächsten Leben...
Im nächsten Leben würde eine am Amazonas geknüpfte Hängematte meine Bude zieren.

P.S.: Und im nächsten Brasilien-Artikel geht es nach Búzios, wo einst Brigitte Bardot…

Mit Dank an Air France / KLM, die meinen Flug nach Rio de Janeiro unterstützt haben.

12 thoughts on “Meine Tage in Rio

  1. Ein bunter T1 unter Palmen, das ist ja ein Traum! Aber Rio – ist es wirklich nicht gefährlich? Ich hätte schon etwas Schiss, dort allein unterwegs zu sein! Gruß, Jenna

    1. Also nicht gefährlich kann man auch nicht sagen. Aber die Regeln, die für viele andere Großstädte gelten, sind hier angebracht. Nachts nicht allein in einsamen Ecken unterwegs zu sein, keinen teuren Schmuck oder riesige Kameras ständig sichtbar zu tragen. Ich habe mir gleich zu Anfang eine Stofftasche mit Reißverschluss gekauft und habe die Kamera nach dem Shooting immer gleich wieder reingepackt. Schau oder frage, wie es die Einheimischen machen. Viele tragen zum Beispiel in der Metro ihren Rucksack vorne. Sie gehen nicht ins Zentrum, wenn die Geschäfte geschlossen sind. Anfangs habe ich mich auch unsicher gefühlt, weil ich diese ganzen Geschichten gelesen und gehört hatte. Mit der Zeit habe ich mich normal bewegt, war auch nach 20 Uhr allein im Viertel unterwegs, doch es war einiges los dort. Ich habe in den Tagen nichts Negatives erlebt oder beobachtet. Sicher kannst du nie sein.

  2. Hi, wie hast du deine Bleibe gefunden ? Ich fresse deinen Brasilienbericht. War einmal sehr eng mit Brasilien verbandelt. gute Reise

  3. Hallo ,
    ich finde es schon echt bemerkenswert wenn man alleine an den Strand geht in Rio. Also ich hätte glaub ich Angst gehabt. Es ist ja nicht so als wäre es eine kleine Stadt. Ich finde auch dass du echt tief blicken lassen hast, was das Leben in Rio angeht und ich habe gerade richtig Hunger bekommen, da ich die ganzen leckeren Spezialitäten in deinem Blog gesehen habe. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Art Kreation einen ganz besonderen Geschmack hat oder etwa nicht? Viele Grüße

  4. Hallo Elke, das ist ja ein interessantes Detail mit den Plastikkabeln die Handtasche am Stuhl zu sichern … hast Du Erfahrungen mit einem pacsafe? Beste Grüße, Ilse

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