Der letzte Sand, ein Kuss

Grenen

Ich bin am Ende. Es ist Samstagabend, die Sonne verabschiedet sich langsam und färbt den Horizont im Westen. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich gleichzeitig an zwei Meeren.

Skagen an der Spitze von Dänemark. Über 65 Kilometer Küste. Sandstrand rechts, links, soweit das Auge blickt. Das nenne ich Luxus. „Überall kannst du baden“, sagt die Einheimische Jonna. „Fast überall.“ Nicht hier, wo Skagerrak und Kattegat aufeinander treffen. Sich mehr oder weniger heftig küssen, ganz nach Laune.

Heute ist kaum etwas zu sehen von diesem Rendezvous am Grenen. „Am schönsten ist es bei Sturm“, findet meine neue Bekannte. Sie spricht perfekt Deutsch, hat es bis vor einem Jahr noch in Skagen unterrichtet, neben Dänisch und Sport. Von den drei Schulen Skagens ist noch eine geblieben, die Einwohnerzahl auf 8.200 geschrumpft.

Die letzte Stadt

Jonna hat ihren Job geliebt, nun ist sie in Rente. Vermittelt ihr gesammeltes Wissen an neugierige Touristen. Und selten regnet es dabei: „Gewitter in ganz Dänemark, nur hier schien die Sonne. Wir konkurrieren mit Bornholm um die meisten Sonnenstunden im Jahr.“

Rettungsschwimmerin ist sie auch noch. „Aber am Grenen gehe ich nicht ins Wasser!“ Zwei Schilder habe ich am Zipfel gesehen: In Lebensgefahr schwebt, wer sich zwischen die beiden Meere wirft. Ein verhängnisvoller Kuss. Die jungen Leute, die mit dem „Sandwurm“, einem Traktor mit Anhänger, zum Grenen gefahren sind, haben die Sektgläser ausgepackt.

Die ewige Sehnsucht

Man prostet sich zu, schaut aufs Meer. Zwei Männer stehen kniehoch im Wasser, um es zu spüren. Die Energie des Zusammenpralls. Ich stehe dort, wo die Wellen ausrollen und fühle nichts außer dem Ziehen, jene ewige Sehnsucht. In schönem Wasser will ich immer schwimmen.

Warteschlange am Horizont

Auch die Skagener baden gerne. Sie sind braungebrannt wie Jonna. Und je nachdem, woher der Wind gerade weht, können sie den Strand wechseln, mal Ost, mal West. Das Wasser hat angeblich nur 12 Grad Celsius, und doch haben in der Nachmittagssonne ein paar Leute den Sønderstrand bevölkert.

An diesem Abend gehe ich kilometerweit barfuß durch den Sand, bei leichtem Nieselregen, um am Ende der Halbinsel zu stehen, auf der ich wohne. Der nördlichste Zipfel Jütlands verändert sich ständig: Jonna hat mir die Kopie einer Karte mitgebracht, so dass ich nachvollziehen kann, wie die Sandbank einst verlief und wo sie heute liegt.

Der Fischereihafen

Die Seeleute müssen das wissen: Das Kap hat es in sich, nicht nur wegen der Strömungen. Mit dem Segelschiff bist du in ein paar Stunden drüben in Norwegen, auch Schweden ist nah. An der Ostseite liegen mächtige Frachter vor Anker. Parkposition, Blickrichtung Hafen.

Im Hafen

„Es ist der größte Fischereihafen des Landes“, klärt Jonna mich auf. Mit dem Bau veränderte Skagen sein Gesicht. „Nun ist der Hafen auch der größte Arbeitgeber der Stadt.“ Ansonsten arbeiten die Leute meist im Tourismus.

Nur selten fahren sie noch mit den kleineren Fischerbooten hinaus wie einst. Einen Kutter haben wir beim Einlaufen beobachtet, er hat Dorsch gebracht. Wo heute der Hafen ist, war früher nichts als Sand. Die historischen Kapitänshäuser an der Ostseite wurden mit Meerblick errichtet. Und es gibt dieses berühmte Bild von Peder Severin Krøyer, „Sommeraften på Skagen“.

Eine Stadt trägt Gelb.

Es zeigt Sønderstrand im Jahre 1893, war einst im Besitz von Axel Springer, hängt heute im Skagen Museum. Die Frau des Malers sowie Anne Ancher, ebenfalls Künstlerin, laufen am Strand entlang, beide in bodenlangen, weißen Kleidern.

Das Abendlicht von satter Strahlkraft, es ist dieses Licht in der ausgewogenen Komposition. Man sagt, die Künstler seien vor allem deswegen hierher gezogen. Jonna meint, eher wegen der Besonderheit des Ortes, denn ein Licht dieser Art sei auch anderswo zu finden.

Seehund
Morgens am Grenen

Mit dem einsetzenden Tourismus haben die Kreativen das Weite gesucht. Einer ließ sich hier begraben: Holger Drachmann, Dichter des Mittsommerliedes. Heute finden sich Bunker in seiner Nähe, und du weißt nie, ob eine Düne nur aus Sand oder auch aus einem Stück Beton besteht.

Auf Sand leben

„Der Sand ruht nie“, weiß Jonna. Alles versandet. An der Westseite gut sichtbar, wo sich die Sandmassen der Wanderdüne Råbjerg Mile stetig vorwärts schieben. Unterstützt vom Westwind schaffen sie jährlich an die 15 Meter über die Landzunge. Irgendwann werden sie die Straße erreichen, die Skagen mit dem Rest Jütlands verbindet.

„Wir leben auf Sand“, sagt Jonna und deutet auf die Häuser, die Bestandsschutz in den Dünen genießen. Nichts sei natürlich im heutigen Naturschutzgebiet, nicht der Strandhafer, erst recht nicht die Nadelbäume. Aber sie festigen den Boden und machen das Leben auf der Odde leichter.

Grenen
Zwischen den Meeren

Stadt der „Pensionäre und Touristen“ nennt Jonna ihr Skagen. Als junge Frau zog sie aus dem Westküstenort Hirtshals an die Spitze Dänemarks, wollte ursprünglich nur während der Ausbildung hier bleiben. Doch sie blieb hängen und kann sich heute nichts Besseres vorstellen.

„Du kannst deine Ruhe haben. Oder mit den Touristen ins Gespräch kommen.“

Dafür geht sie einfach zu dem Punkt, den jeder sehen und erleben will, zum Ende Jütlands. Dort sei die ganze Welt zu Hause. Ist es der Kuss? Die Energie? Als ich barfuß in den plätschernden Wellen stehe und auf die beiden Meere schaue, ahne ich es.

Grenen
Es küsst? Es knutscht!

Es ist das Ungebrochene, Einfache, Kontemplative. Die Endlosigkeit des Ortes. Nichts als Sand, Wasser und Licht. Das muss es sein, was die Künstler fasziniert hat. Ich beneide Jonna ein wenig, die sowohl die stillen als auch die bewegten Momente dieses Fleckens kennt, den ich nur einmal erlebe.

Die Ruhe und Kraft, die Jonna ausstrahlt, sind Beweis genug.

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an Visit Nordjylland, die diese Reise ermöglicht haben.

23 thoughts on “Der letzte Sand, ein Kuss

  1. Ein toller Text, Elke, gefällt mir ganz besonders gut! Man ist mittendrin, als stünde man mit dir und Jonna am Strand von Skagen, wunderbar.
    Und: Ist das erste Bild oben ‚echt‘? Wie passend :)

    Schöne Grüße vom Meer,
    Conny

  2. Oh, so viele Kindheitserinnerungen, der „Sandormen“, Krabben am Hafen pulen, in der Råbjerg Mile die Dünen runtergerollt, als Teenager 30 km den Strand (Nordsee) entlang gewandert Richtung Skagen mit einer Gruppe von 20 Jugendlichen, “Sommeraften på Skagen” von Krøyer ist ein Familienbild geworden, später eine echte Skagen-Uhr in Skagen gekauft. Es ist so schön dort. Danke für die Impressionen!

  3. Oh, wie toll! Ich liebe Skagen (ach was, ganz Jütland. Ach was, ganz Dänemark.).
    Ein schöner Post, um in den Tag zu starten.
    Danke und Grüße aus Hamburg
    Stefanie

  4. Haach, Elke, wieder einer Deiner besonders wunderbaren Texte. Vielen Dank, es war ein Genuß! Und irgendwann fahre ich auch nach Skagen. Aber jetzt geht es bald erst einmal nach Rügen!
    Schönes Wochenende
    Martina

  5. Ich habe ein Jahr lang in Daenemark gelebt und zum Abschluss sind wir nach Skagen mit dem Zug gefahren, genau einen Tag vor Sankthansaften. Der Text beschreibt die Atmosphaere dort ganz wunderbar. Wirklich ein magischer Ort. Und danke fuer die schonen Fotos! Ich habe Ihren Blog erst heute enddeckt und werde sicher oefter reinschauen. Viele Gruesse aus Thailand

  6. Liebe Elke!
    Das ist wirklich ein klasse Reisereport mal wieder!
    Ich finde es toll, wie gut du es verstehst, gelungene Texte mit den ausdrucksstarken Bildern zu verknüpfen. Da hat man ja beinahe „Meerluft“ in der Nase!;)
    Mach weiter so und lass dich grüßen!
    (bald muss ich auch mal wieder an die See!)
    Bert

  7. Ich war noch nie in Dänemark, aber dein Bericht und diese melancholische Landschaft haben mein Interesse geweckt. Wird mein nächster Städtetrip :) Danke für deinen Post! :)

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