Ponys im Nebel

Es nieselt schon, als ich Jógvan á Dul in Tórshavn treffe. Unser Wanderziel heißt Kirkjubøur, ein Ort im Südwesten von Streymoy und im Mittelalter das kulturelle Zentrum der Färöer. Ich denke ganz gut auf Regen eingestellt zu sein, muss ja. Sonne ist selten auf den Inseln mitten im Nordatlantik.

Mein Rucksack steckt unter dem Regencape, ich trage Wanderstiefel und eine regendichte Hose. Eigentlich steht Ende Juli auf dem Kalender, und Jógvans leichtes Outfit lässt das viel eher vermuten. Mit jedem Schritt wird mir wärmer unter der Winterjacke, auch wenn die Außentemperatur nicht mehr als 12 Grad beträgt. In der Stadt merken wir den Wind noch nicht.

Im Hafen von Tórshavn treffen wir auf Mortan, einen pensionierten Fischer. Einst hat er mit Isländern und Grönländern gemeinsam Kabeljau gefangen und in Cuxhaven verkauft. Heute liegen ein paar eingeschweißte Fischfrikadellen auf seinem Verkaufstisch. Und frisches Walfleisch. Im Sommer treiben die Insulaner Grindwale in ihre Buchten und töten sie.

Wie wohl die meisten Färöer weiß Jógvan genau, woher das Fleisch stammt. Er weiß, in welcher Bucht zuletzt wie viele Wale erlegt wurden. Früher zogen die jungen Männer in traditionellen Holzbooten aufs Meer, um die Wale in die Buchten zu treiben. Man sagt, die Statistiken über den Grindwalfang seien die ältesten Jagdstatistiken der Welt.

Seit der Wikingerzeit tun sie es, erste Aufzeichnungen datieren aus 1584. Im Gegensatz zu Norwegern und Isländern haben die Färöer Fleisch und Speck immer selbst gegessen, man spricht in diesem Fall von Subsistenzwirtschaft. Aufgrund der Umverteilung an die Bevölkerung, wovon in früheren Jahrhunderten Ältere und Bedürftige profitierten, die sich selbst nicht versorgen konnten, spricht der Kollege Rasso Knoller in seinem Buch „Inseln des Nordens“ von einem der ältesten Sozialsysteme der Welt.

Tierschutzorganisationen fordern ein Ende dieser Tradition, da das Grindwalfleisch heutzutage nicht mehr das Überwintern der Bevölkerung sichern muss. Hinzu kommt, dass Walfleisch stark mit Quecksilber und anderen industriellen Giften angereichert ist. Vom Walfleischverzehr wird daher abgeraten, was im Übrigen auch für Fischarten wie Makrele oder Thunfisch gilt.

TInganes, Tórshavn
Die Färinger nennen ihre Hauptstadt einfach Havn.

Im Gegensatz zu anderen Arten gilt die Grindwalpopulation im Nordatlantik als nicht gefährdet und wird von den Färingern nach eigenen Angaben nachhaltig bejagt. Das bedeutet auch, in manchen Jahren wird kein einziger Wal getötet, zuletzt in 2008. Ein weiteres Argument der Färinger: Die Tiere lebten vor der Jagd in Freiheit, was man von Tieren in Massenhaltung nicht behaupten kann.

Während wir reden und reden, verlassen Jógvan und ich langsam das Stadtgebiet von Tórshavn. Wir müssen einen Bergkamm überqueren, um nach Kirkjubøur zu gelangen – eine Strecke von knapp acht Kilometern. Ohne Pausen wäre das angeblich in zwei Stunden zu schaffen. Anfangs führt unser Weg über Wiesen und Bäche, verstreut liegen ein paar Bauernhöfe in der Landschaft, die Sicht wie abgekappt durch den Nebel.

Färöer Schaf und Katze
Ziemlich beste Freunde

De Regen wird stärker, als wir den historischen Versammlungsort von Reynsmúlalág erreichen. Außer uns ist nur ein durchtrainiertes norwegisches Paar mittleren Alters in Outdoorklamotten unterwegs. Sie haben uns schnell abgehängt. Immer wieder öffnen wir Tore, der Weg wird steiler und steiniger. Irgendwann kommen die Norweger uns wieder entgegen, durchnässt bis auf die Haut. Sie geben auf, wollen zurück nach Tórshavn.

Zu diesem Zeitpunkt fotografiere ich noch mit meiner Kamera, die ich bald mit feuchten Händen im Rucksack verstauen muss. Selbst für den Auslöser des Smartphones sind meine Hände zu glibberig, doch die immer endzeitlicher gestimmte Landschaft fasziniert mich. Dass sich Dichter und Maler hier inspiriert haben, ist bei dem alles beherrschenden Grau nur schwer vorstellbar.

Wanderung nach Kirkjubøur
Auf dem Mond

Regen, Nebel, Kälte. Nichts als Steine weit und breit. Der Horizont verschlungen, als würde das Land im Nichts enden. Wie lange es denn noch dauere, frage ich Jógvan wie ein kleines Kind, das langsam bockig wird. Ich habe das Gefühl für Raum und Zeit verloren. „Nur noch ein bisschen“, entgegnet er. Netter Versuch! Über eine gefühlte Ewigkeit ändert sich nichts.

Ich wanke hinter dem geübten Wanderer her, nass, hoffnungslos, auf diesem Weg in die Unendlichkeit. Alles fließt, ich habe Auflösungserscheinungen, bin eins mit dem Wasser um mich herum. Mit seinem Wanderklub war Jógvan schon in Schottland unterwegs. „Sieht es dort ähnlich aus?“, will ich wissen, und er bejaht. Da entdecke ich Schafe im Nebel, die scheu zur Seite laufen, als wir uns nähern.

Endlich geht es wieder bergab, und Jógvan verspricht, dass wir nun ganz flott Kirkjubøur erreichen. Fast habe ich den Eindruck, als würde der Regen nachlassen, nur ein bisschen. Als könnte ich nun zwischen hundert verschiedenen Regenstufen unterschieden. Als würden die tiefhängenden Wolken ein Stück von der fantastischen Sicht preisgeben. Ein Gruß aus der Küche quasi. Eine Andeutung der unermesslichen Schönheit dieser wilden Landschaft mitten im Nordatlantik.

Wie Felsen, die ins Wasser gefallen sind, spärlich besiedelt, mehr Schafe als Einwohner unterwegs. Und endlich das Meer. Ein Stück Blau zwischen dem Grau, eine kleine Bucht, ein Schiff. Wer die Einsamkeit sucht, wird sie hier finden. Und es wird ihm kaum auffallen, wenn mit einem Mal dunkle Häuser aus dem Boden wachsen. Grün ihre Dächer, wie eine Fortsetzung der Wiesen. Kirkjubøur.

Kirkjubøur
Und plötzlich das Meer

Pferde am Weg, die uns neugierig ihre Nasen entgegenstrecken. Meist Islandpferde, die Färöerponys seien selten, so Jógvan. Doch er wolle sich gerne erkundigen, wo wir welche finden. Da hält ein Auto neben uns, und Jógvan freut sich, einen alten Bekannten wiederzusehen. „Matthew ist verliebt in die Färöer“, sagt er mir später. Der amerikanische Journalist käme jedes Jahr im Sommer hierher.

Ich bin froh eine Picknickhütte mitsamt Toilette und Händetrockner zu finden, letzteren missbrauche ich als Haar- und Wäschetrockner. Wir suchen nach einer Busverbindung zurück nach Tórshavn, haben die Linie 101 jedoch knapp verpasst und beschließen, ein Taxi zu rufen. Der Fahrer erweist sich als Glücksgriff, bringt er uns doch zu einem Rudel Färöerponys.

Die kastanien- oder dunkelbraunen bis schwarzen Tiere sind zwar maximal 124 Metern hoch, doch in den Augen der Färinger gehen sie aufgrund ihrer Stärke als Pferde durch. In früheren Zeiten haben sie Lasten getragen und galten als äußerst trittsicher auf unwegsamem Gelände. Doch dann brauchte man ihre Hilfe nicht mehr, und in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts lebten nur noch eine Handvoll Färöerponys auf den Inseln.

Heute kümmert sich vor allem die Familie von Anna Louisa Joensen um das Weiterleben der Pferderasse, die seit Jahrhunderten auf den Inseln lebt. Wir treffen ihre Tochter Maria bei den Tieren auf der Wiese, gerade versucht sie ein ausgebüchstes einjähriges Fohlen wieder hinter den Zaun zu bringen.

Färöerpony
Frech und frei

Es nieselt nur noch leicht, und ich freue mich, dass die Kamera trotz der ganzen Feuchtigkeit noch funktioniert. Das Fohlen spielt mit dem Halfter, es schaut mich aufmunternd an. „Es lebe die Freiheit“, scheint es sagen zu wollen. Und mir scheint, als ob jede Pore dieser triefnassen, stoisch in sich ruhenden Inseln dem zustimmt.

Text und Fotos: Elke Weiler


Und noch ein paar Lesetipps:

* Gut erzählte Geschichten von den arktischen Inseln, nicht nur über die Färöer, findet ihr im bereits erwähnten Buch „Lesereise Inseln des Nordens“ von Rasso Knoller und Barbara Schaefer.

* Jutta vom Blog „6 Grad Ost“ war ebenfalls im letzten Sommer auf den Färöern und hat viele Einheimische getroffen. Ein Einblick in das Leben auf der fernen Inselgruppe mit stimmungsvollen Schwarzweißaufnahmen.

* Kollegin Claudi war bereits in 2014 auf den Färöern und hatte wesentlich mehr Sonne als ich! Ihre farbenfrohen Bilder und diverse Stories findet ihr im Blog „Claudi um die Welt„.

Kirkjubøur
Schafe im Nebel

Mit Dank an Visit Faroe Islands, die meine Reise unterstützt haben.

9 thoughts on “Ponys im Nebel

  1. Lieben Dank für die Erwähnung Elke! Das mit dem Überholen und wieder Entgegenkommen kommt mir seeeehr bekannt vor. Ich halte mich ja auch für einen guten Wanderer, aber ich glaube, auf den Färöern unterschätzt man das Auf und Ab. Da wird eine Wanderung schon ziemlich anspruchsvoll. Auf Mykines bin ich in unwegsamen Terrain übrigens ein Stück den Hang hinunter gekullert. Sehr zum Vergnügen meiner Begleitung : ) Schöne Impressionen! Sonnige Grüße, Jutta

    1. Danke, liebe Jutta! Ui, das war aber heftig! Ich vermute, deine Begleitung konnte dich retten? Mykines, da sprichst du einen wunden Punkt an. Bei mir hat es ja leider nicht geklappt, aber irgendwann halt. Oder ich suche auf Island nach Papageientauchern. ;-) Liebe Grüße zurück!

    1. Hi Kathi, ich bin jetzt schon neidisch! :-) Wünsche dir eine ganz tolle Reise! Schottland und Shetland stehen bei mir auf der Liste. Dann bin ich gespannt, wie es dir gefällt…

  2. Hej Elke, es ist doch seltsam: Ich habe allmählich die Nase wirklich voll von grauem Himmel und Regen … aber Deinen Spaziergang auf den Färöern würde ich heute für mein Leben gern nachlaufen :-) Schönen Sonntag, Stefanie

    1. Danke, liebe Stefanie! Auf den Färöern hättest du vermutlich auch nicht so viele Wetteroptionen. :-) Dir auch einen schönen Sonntag! Liebe Grüße aus Holland! (Auch ohne Sonne. ;-) )

  3. Liebe Elke, das liest sich super spannend! Ich kenne die Inseln noch gar nicht und auch keine vergleichbaren Inseln. Bisher zog es mich immer in die sonnigen Gegenden der Welt. Weißt Du, wann die beste Reisezeit ist? Ich bin nämlich auch Riesen-Pferdefan :)

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