Verloren in Wilhelmsburg

Der alte Elbtunnel zieht mich an. Und nun habe ich endlich einen guten Grund, ihn zu benutzen: zu Fuß von St. Pauli auf die Elbinseln, denn ich verbringe zwei Nächte im Stadtviertel Wilhelmsburg. Also im verrufenen Süden Hamburgs.

Als ich losziehe, schließt sich mir ein Kollege spontan an. Es ist noch warm und hell draußen, und wir laufen munter drauf los. Bis zum Tunnel ist alles ganz einfach. Wir steigen hinab, bis tief unter die Elbe. Neben den hydraulischen Kabinen für einzelne Autos existiert ein Aufzug für Fahrradfahrer und Fußgänger, die gerne den Tunnel benutzen. Doch wir sind sportlich und machen alles zu Fuß. Noch sind wir bei Kräften.

Das Baudenkmal von 1911 will ja ausgiebig bewundert werden. Ein Art zurückhaltender Jugendstil, eben Ingenieursbaukunst, aber abgerundet und mit Details geschmückt. Wir sind von Ratten und Fischen umgeben, so zumindest auf den Darstellungen der Majolika, die wir uns beim Gang unter der Elbe zu Gemüte führen. Bizarr die Vorstellung, dass gerade eine schwimmende Kleinstadt den Elbtunnel über unseren Köpfen kreuzen könnte.

Jugendstilformen

Die Röhre, gewölbt und hell gekachelt, lässt jedenfalls nicht die Spur von Platzangst zu, auch wegen der Muscheln, Delfine und anderen Nettigkeiten an den Wänden. Schade eigentlich, dass bei Neubauten auf solche Details meist nicht geachtet wird. Das ist auch schon das Ende meines Plädoyers für den Jugendstil. Ich muss nämlich einem Fahrrad ausweichen, weil ich auf der „Straße“ fotografiere. Reporter leben gefährlich. In der Tunnelmitte ein Schild: 21 Meter unter mittleren Hochwasser.

So viel Wasser und kein Tropfen hier drinnen. Die 426,5 Meter Tunnellänge haben wir flott zurückgelegt und sind auch schon auf der anderen Seite der Elbe gelandet. Ein Musical, sonst Industrie, Lager und Hafenanlagen. Hier dockt aktuell eine der schwimmenden Kleinstädte an – stickige Luft auf Steinwerder.

Wir genießen noch einmal den Blick auf die „Sonnenseite“ der Stadt mit Landungsbrücken, Elbphilharmonie, Hafencity. Dann stellt sich die Frage aller Fragen: Wie geht es weiter? Wir müssen zur Mitte Wilhelmsburgs und orientieren uns zunächst an der Bushaltestelle. Von zwei möglichen Bussen fährt um diese Zeit noch einer – bis zur Veddel.

Im Elbtunnel zur anderen Seite

Warten wollen wir nicht. Einen Plan haben wir auch nicht: Unsere Touristenkarte hört am Steinwerder auf, und der Aushang am Bus sagt wenig über die Entfernung. So laufen wir blind drauf los an diesem immer noch hellen und warmen Frühlingsabend.

Hafenkräne, gespenstisch leer wirkende Gebäude, verrostete Gleise.

Gestapelte Container und überall Wasser. Keine Menschenseele weit und breit. Da! Ein Cabriolet, eine Spur zu luxuriös für die Gegend. Wir haken lieber nicht nach. Die Sonne färbt die ferne Elbphilharmonie rosa, da erscheint ein junger Künstlertyp, ganz lässig, auf der anderen Straßenseite.

„Wo geht’s zur S-Bahn?“, rufe ich über die Straße. Geradeaus und an der Brücke rechts, meint er. Wir wandern weiter. Kein Mensch, keine Brücke, aber laute Musik aus einer Halle. Zeichen von Leben.

Und dann… ein Hechtsprung zur Seite rettet mein Leben. Zum zweiten Mal an diesem Abend. Denn ein ganzer Pulk von Radfahrern saust an uns vorbei, sämtliche Geschwindigkeitsrekorde brechend. Das eigentliche Problem ist: Es gibt Radwege und Straßen hier – nur keine Bürgersteige. Steinwerder ist nicht zum Wandern gemacht.

Gespenstische Leere

Kurz vor der angekündigten Brücke treffen wir auf eine weitere Fußgängerin, die einen Koffer mit sich zieht. Das pralle Leben. Sie geht wesentlich mehr ins Detaill als der Künstlertyp und klärt uns über sämtliche Optionen des Weiterkommens auf. Sie redet noch, als der einzige Bus der Gegend auf uns zurollt.

Wir hechten los und springen hinein. Von der Veddel kommen wir bestimmt irgendwie nach Wilhelmsburg-Mitte. Es beginnt eine wilde Bustour durch quasi alle industriellen Ecken Wilhelmsburg, die wir zuvor nicht erwandert hatten. Ein Trupp bayerischer Touristen mit ähnlichem Schicksal sitzt im Bus, allerdings sind sie direkt am Elbtunnel eingestiegen. Die Stimmung ist gut, bis eine Durchsage vom Band ertönt: „Diese Fahrt endet hier. Auf Wiedersehen.“

Der Bus spuckt seine Ladung aus, und aufgrund mangelnder Ortskenntnis folgen wir dem Herdentrieb. Denn es saßen sogar zwei Einheimische im Bus, denen wir nun unauffällig hinterher laufen. Alles wird gut, jetzt ist es nur noch eine Station mit der S-Bahn. In Wilhelmsburg-Mitte gelandet rennen wir wieder Masse hinterher, doch dieses Mal geht der Plan leider nicht auf. Und das hat seinen Grund.

Das neue Wilhelmsburg

Eine Frau mittleren Alters lächelt uns an. „Zum Garten?“, fragt sie, denn sie hat unsere Situation messerscharf analysiert. Während nämlich alle Wilhelmsburger links hinaus rennen, zieht es die Touristen auf der Elbinsel an dieser Stelle nach rechts. Zum Gelände der Internationalen Gartenschau.

Dort ist das Hotel, dort ist Wilhelmsburg ganz anders. So neu wie ein ungetragener Schuh, der noch drückt. Und das alte Wilhelmsburg kenne ich immer noch nicht…

Text und Fotos: Elke Weiler

Mehr Tipps für die Stadt an der Elbe? Hier geht es zu meinem Mini-Guide für Hamburg.

Mit Dank an Hamburg Tourismus, die diese Reise unterstützt haben.

11 thoughts on “Verloren in Wilhelmsburg

  1. Ich hab ein halbes Jahr in Hamburg gewohnt, bin aber nie durch diesen spooky Tunnel gegangen. das muss ich unbedingt noch nachholen!

    Bin gespannt, wie es weiter geht!

  2. Ich bin zwar seit 4 Jahren regelmäßig in Hamburg, aber von einem Fußweg durch den alten Elbtunnel habe ich gerade eben zum ersten Mal gelesen. Cool! Werde ich bei meinem nächsten Besuch unbedingt besichtigen, mal sehen, wie weit wir kommen! Danke für den Tipp!

  3. Hamburg steht bei uns als Reiseziel für den kommenden Sommer. Die Freunde haben uns schon ein Zimmer gebucht. Die Großstadt, wie ich sehe, kann auch provinziell sein, und an einigen Orten Interesse ans Leben erwecken. Ein tolles Erlebnis!

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