Welt der Gezeiten

Als wir die Grand Île erreichen, ist das Wasser auf dem Rückzug. Mitte Oktober, und die Saison hat sich dem Ende zugeneigt. Unser Schiff, die „Jolie France“ aus Granville, legt nur noch drei Mal pro Woche an, um Passagiere, Post und Wasser auf die Chausey Inseln zu bringen. Außer Simon und mir sind nur wenige Touristen und Einheimische an Bord, die ihre Besorgungen auf dem Festland erledigt haben.

Eine Stunde dauert die Fahrt zum Insel-Archipel, das noch zu Frankreich gehört, während die großen Nachbarinnen Jersey und Guernsey zu England zählen. Eine Stunde in eine andere Welt. Nicht, dass die Uhren anders tickten. Doch eine Insel ist Insel. Tagestouristen sind angehalten, ihre Abfälle wieder einzupacken, die Schiffsbesatzung kümmert sich auch um die Müllabfuhr. Handkarren dienen dem Transport, auch einen Traktor haben wir gesichtet. Aber Autos? Völlig überflüssig.

Gerade noch war ich am Mont-Saint-Michel und in Saint-Malo, habe mich am Spiel der Tiden, an der enormen Kraft der Springflut erfreut. Meine rote Ente „la vie en rouge“ musste ich schweren Herzens in Granville wieder abgeben, dafür ging es mit dem Schiff weiter.

Ein bärtiger Fischer hilft uns beim Anlegen. Noch steht die Kaimauer im Wasser, doch schon bald wird das mehrstöckige Holzgerüst aus dem Meer auftauchen wie ein mit Algen behangenes Piratenschiff und seinen Dienst tun. Kurz darauf steigen wir wieder aufs Boot und starten zu einer Rundfahrt durch das Archipel. Auch die Fischer ziehen nun hinaus, mal mehr, mal weniger weit von der Grand Île entfernt, je nachdem, was sie fischen, oder ob sie Muscheln ernten.

Die zwei Realitäten von Chausey

Die Zahl der 52 sichtbaren Inseln wächst bei Ebbe auf 365 an. Aus einer Oberfläche von 64 Hektar werden 5.000. So kennt die wunderbare Welt von Chausey im Ärmelkanal mindestens zwei Realitäten, die Welt der Ebbe und die der Flut. Schuld sind die Gezeitenströme in der Bucht des Mont-Saint-Michel, die größten Europas. 14 Meter Tidenhub, als wäre das nichts.

Die seltsame Vermehrung der Inseln bei Ebbe, als hätte das Meer Steine ausgespuckt, harte Steine. Granit. Galten die Inseln doch lange Zeit vorzugsweise als Materiallieferanten, und zwar nicht nur für die Bauten des Mont-Saint-Michel. Wer ahnt schon, was passiert wäre, hätte man den Abbau nicht gestoppt. Irgendwann wären die Inseln abgeflacht oder gar ganz verschwunden und als Architekturen an anderer Stelle wiederauferstanden.

Steinreichtum

Dabei, so erzählt Simon, war es früher eher kompliziert, die schweren Brocken zu transportieren. Man bediente sich eines Tricks, transportierte die Steine bei Ebbe zum trockengefallenen Schiff und befestigte sie mit Seilen. Das Boot setzte sich dann bei Flut in Bewegung, die Brocken mitschleifend. Eine Fahr- und Transportweise, die nicht unproblematisch war, aber scheinbar lange funktionierte.

Wann ist eine Insel eine Insel? Dieser Haufen von Steinen im Meer, die Physiognomie eines Archipels. Dunkle Brocken im Wasser, auf denen Seevögel rasten. Eine Insel für jeden Tag des Jahres. Gefalteter Fels. Eine eigene Welt in der Stille des Meeres. Gesteinsformen wie Skulpturen, Fratzen, Robbenköpfe, Walrücken.

„Manchmal zeigen sich Delfine“, meint Simon. Doch ich nehme nur die Bewegung der Wellen wahr.

Insgesamt harren wir über drei Stunden auf dem Wasser aus, die Rückfahrt eingerechnet. Leere Sitzreihen, im Wind zuschlagende Holztüren, kaum Passagiere an Bord. Und der Streifen Land am Horizont, ist das schon Jersey? Nein, zu weit weg. „Doch manchmal bist du im englischen Netz“, meint Simon und schaut auf sein Handy.

Zwei der Chausey Inseln sind bewohnt, im Winter nur noch die Grand Île. Viele Chausiais sind Fischer. Vor allem Lobster und Bulots, die Wellhornschnecken, würden das Gold von Chausey genannt, so Simon. Die Bulots würden im Sud gekocht, mit Mayonnaise serviert, dazu ein Weißwein oder Cidre – und fertig sei die Vorspeise. Er ist in der Nähe von Granville aufgewachsen und also vom Fach.

Zusammen mit der Sonne kehren wir zur Grand Île zurück und ziehen zu Fuß weiter. Simon hatte anfangs zweifelnd auf meine leichten Plateau-Stiefel geschaut. „Hast du noch andere Schuhe mit?“ Ja, habe ich geantwortet, aber die wären ähnlich gemacht. Ich bin in Alltagskleidung unterwegs, während Simon Outdoorklamotten, Wanderschuhe und einen vollgepackten Rucksack mit sich trägt. Letzterer enthält ein Picknick sowie eine Thermoskanne mit Kaffee.

Singende Piraten

„Wie ein Norweger!“, meine ich, und Simon lächelt. Das gefällt ihm, der mit seiner Familie am liebsten in der Natur unterwegs ist. Die Wege der Grand Île stellen überhaupt kein Problem für meine Schuhe dar, auch den Sand der Plage du Port-Marie können sie gut ab. Dort lassen wir uns zum Picknicken nieder, Steine gibt es erwartungsgemäß genug.

Da! Piraten ziehen erhobenen Hauptes über den Strand von Port-Marie, eine alte Seemannsweise schmetternd. Ganz in Dunkelblau gekleidet, wirken die jungen Männer allerdings zu uniformiert für Piraten. Sie müssen der Marine National angehören und wohl von einem der beachtlichen Segelschiffe stammen, die vor Chausey liegen.

Auf den Chausey Inseln
Plage de la Grand-Grève

Doch in alten Zeiten war die Inselgruppe ein Ort der Schmuggler und Piraten. Vor allem gab es die Arbeiter in den Steinbrüchen sowie die Soudiers, die Algen sammelten und Soude daraus kochten, die sie an die Glasindustrie verkauften. Und natürlich die Fischer, wie heute. In Scharen ziehen sie aufs Meer, fischen mit speziellen Körben oder steuern die Muschelpfähle an.

Doch viele der alten Fischerhäuser fungieren heute als Sommerhäuser für Franzosen vom Festland. Wer hierher kommt, sollte seinen Proviant gut planen. Wir drehen pro forma eine Runde durch den winzigen Supermarkt, weil ich das Angebot auf Inseln immer höchst aufschlussreich finde. Was wird eingekauft, wenn es nicht viel gibt? Was wird im Notfall gebraucht? Privatleute dürfen auf den Chausey Inseln bestimmte Mengen selber fischen, doch eigentlich kommen alle Waren vom Festland.

Wir wandern im Zickzack über die Insel, bewundern die bizarren Formen der Steinbrocken auf der Plage de la Grand-Grève, die seit jeher die Fantasie der Chausiais und ihrer Besucher beflügelt haben. Liegende Männer, Elefanten, Artischocken – alles ist möglich, hier auf der Grand Île, die im Winter so schön ruhig und verlassen wirkt. Die nun ihren rauen Charakter wiedergewinnt.

In der Nähe des sogenannten Schlosses Renault, das zwar einst vom Autohersteller im großen Stil renoviert wurde, heute aber von einer Pariser Familie bewohnt wird, picknicken wir zum zweiten Mal. Ein junges Paar sei beim Liebesakt über dem Amphitheater abgestürzt, erzählt Simon. Eine seltsame Geschichte. Zum Andenken habe man die weißen Zeichnungen an die Mauer gemalt. Wir lauschen dem Gesang der Piraten in der Ferne.

Eine Schule gibt es nicht mehr auf der Grand Île, was zur Abwanderung der jungen Familien führte. Die letzte Schule trägt zwar noch den entsprechenden Schriftzug, dient aber nunmehr Touristen als Unterkunft. Auch das ehemalige Haus des Künstlers Marin Marie mit den türkisblauen Fensterläden. In der einzigen Kneipe, die wahlweise auch als Restaurant oder Café fungiert, trinken wir einen Aperitif mit Blick auf den Hafen.

Auch ein paar Fischer stehen an der Theke und beäugen uns von der Seite. Laut Simon ist es nicht leicht, Kontakt zu den Chausiais zu bekommen. Bestimmt klappt es, wenn man über den Winter bleibt. Einen Bootsführerschein macht, Fischen lernt.

Und jeden Tag nur das Meer und du.

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an Atout France und Normandie Tourisme, die meine Reise unterstützt haben.

6 thoughts on “Welt der Gezeiten

  1. Hallo Elke,
    habe noch nie etwas von der Grand Ile gehört, aber am liebsten würde ich gleich los ziehen. Piraten suchen, die Insel erkunden. Vielleicht treffe ich ja auch den bärtigen Fischer. Der Bericht macht Lust mehr. Super!
    Viele Grüße
    Kirsten

    1. Danke, liebe Kirsten! Der Fischer sieht ganz so aus, als würde er so schnell nicht die Insel verlassen wollen. Ich wünsche dir viel Spaß beim nächsten Roadtrip! Viele Grüße, Elke

  2. Hallo Elke,
    kenne die Insel bislang nur von einer Doku, aber spätestens jetzt zieht es mich dorthin. Kann mich nur noch nicht ganz entscheiden, denn die englischen Inseln, vor allem Guernsey mit ihren kleinere Inseln, reizt mich auch sehr. Aber da ich nicht ganz so weit anreisen muß, werde ich vielleicht bei besuchen.
    Viele Grüße aus der Bretagne,
    Ben

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert