Eine Kindheit im Hafen

Eigentlich gibt es ihn nicht mehr. Doch Hanne will ihn mir trotzdem zeigen, den Überseehafen. Hier in Bremen? Ich denke beim Thema Übersee eher an Bremerhaven und die längste Stromkaje der Welt. Hanne soll ich vorm Roland treffen, in Bremen ein ebenso beliebter Treffpunkt wie die Stadtmusikanten. Da stehe ich nun vor dem Rathaus und schaue mich ein wenig um.

Jener Roland wirkt leicht überdimensioniert mit seinen fast fünfeinhalb Metern, ein kriegerischer Roland mit gezücktem Schwert. Doch immerhin scheint die mittelalterliche Figur zu lächeln. Das Bremer Wunder. Während ich so dastehe und gucke, nähert sich Hanne. Sie will wissen, was ich wissen will, und dann radeln wir auch schon die Weser entlang.

Ich liebe ja flache, grüne Städte mit einem Fluss und weitem Radwegenetz. Also Städte wie Bremen. Städte mit Sehnsucht nach der Ferne, mit Blick nach Übersee. Ein Stück geht es die Schlachte entlang, wo die Bremer flanieren, Bier trinken oder einfach auf den Fluss schauen.

Bremen mit dem Rad

Es fällt schwer, sich die Transportschiffe vorzustellen, die aus Amerika kamen und jahrhundertelang genau an dieser Stelle be- und entladen wurden. Wir bewegen uns Richtung Norden, der Fluss glitzert in der Sonne, Fahrtwind im Haar. Natürlich will ich alles wissen: Was ist aus Bremens altem Überseehafen geworden? Und wieso gab es überhaupt einen? Hanne, ein Kind des Hafens, hat längst angefangen zu erzählen.

An der Schlachte wurde es zu eng für die neuen Kähne, und so zog der Hafen nach 700 Jahren um. Ein Stück weiter nördlich, wir radeln gerade durch das entsprechende Neubaugebiet, entstand Ende des 19. Jahrhunderts zunächst der Europahafen. Ein paar Jahre später folgten Werft- und Überseehafen.

Es liegt ein malziger Geruch in der Luft, und Hanne muss mich aufklären: Die Cornflakes seien schuld! Wer heute in das alte Hafenareal zieht, muss sich darüber im Klaren sein. Ein Teil des Gebietes wird eben noch industriell genutzt. Und sogar Container sind zu finden – im alten Holzhafen nämlich.

Container satt

Unser erster Stopp führt uns ins Hafenmuseum. In einen Teil des endlos langen Speichers 11, einer der wenigen Backsteinbauten, die den Krieg überlebt haben. Hier kann man heute mit Puschen über die Bremer City laufen, alles von oben inspizieren und ein Gefühl für die Dimensionen entwickeln.

Oder im ersten Stock die Atmosphäre der Lagerhäuser nachempfinden. Einen 60 Kilogramm schweren Kaffeesack versuchsweise stemmen. Ich muss lachen: Nicht einen Zentimeter schaffe ich. Auch bei der Identifizierung exotischer Waren am Geruch hapert es. Das Schöne an diesem Museum ist, dass es auch die Liebe der Bremer zum Hafen dokumentiert. Nicht zuletzt, weil ehemalige Hafenarbeiter eine Vielzahl der Exponate zusammengetragen haben.

Mit Bremen ist das nämlich so: „Erst der Hafen, dann die Stadt“, hat es bei den handeltreibenden Hanseaten geheißen. Die Weser führt symbolisch hinaus in die Welt. Und Hanne hatte das schon mit Blick auf die Stephani-Brücke angedeutet: „Dahinter beginnt Amerika.“ Hier endet die Binnen- und beginnt die Seeschifffahrt.

Der vielleicht beste Kaffee der Stadt.

Damit der Handel mit Übersee auch im 20. Jahrhundert noch florieren konnte, begradigten die Bremer den zu versanden drohenden Fluss und schufen die neuen Häfen und Speicher im Norden. Da – ich sehe Mäuse! Jute-Mäuse, ein Spiel für die Kinder, die die überall im Museum versteckten Nager aufspüren sollen. „Mäuse… früher gab es Heerscharen davon im Hafen. Und viele Katzen.“ Hanne erzählt mehr und mehr aus ihrer Kindheit.

Englisch habe sie im Hafen gelernt, da es damals noch keine Zäune vor den Schiffen gab. Sie konnte einfach an Bord huschen, das neugierige Mädel. Wir sitzen im Lloyd Café und trinken den besten Kaffee der Stadt. Hier ist alles handmade: manuell geerntete Bohnen, direkt importiert, schonend langsam geröstet – und zwar erst auf Bestellung. Wir können Röstmeister Christian Ritschel quasi über die Schulter schauen.

Allerdings nicht beim Rösten, wenn auch direkt vor der schicken Vintage-Maschine stehend. Er hält eines seiner beliebten Kaffee-Seminare ab, während Hanne und ich uns das Ergebnis seiner Arbeit munden lassen. Und Hanne in Erinnerungen schwelgt: „Der Duft von Kaffee ist der Duft meiner Kindheit.“

Er ist immer noch da, der Duft.

Das Luxusgut war in der Nachkriegszeit schwer zu haben. Da war es von großem Vorteil, im Hafen zu wohnen und einen Onkel als Kranführer zu haben. Es konnte nämlich passieren, dass „zufällig“ mal etwas von der Ladung zu Boden fiel. Man musste nur im richtigen Moment zur Stelle sein!

„Heute werden ganze Container geklaut“, weiß Hanne, doch ich kann es mir schwer vorstellen. Diese Ungetüme wirken ja eher unhandlich. Wir radeln ein Stück weiter, denn die Bremerin will mir genau die Stelle zeigen, die mal Überseehafen war und Ende der 90er Jahre mit Wesersand zugeschüttet wurde.

Ganz Bremen weinte. Was war passiert? Die Überseestadt ward geboren. Ein Teil der neu gewonnenen Fläche wird zum Großmarkt, ein Teil ist heute immer noch Brachland. Es duftet nach Wiesenkräutern, als wir über das ehemalige Hafenbecken fahren, und Hafenkind Hanne findet es schön hier.

Wir sind nicht weit weg vom Trubel der Innenstadt, und doch wirkt Bremen hier ganz anders: Wie eine Oase möchte meinen, wer das Drama der Geschichte nicht kennt. Der Überseehafen, die Seele der Stadt, ist nicht mehr da, und nicht wenige sprechen von einer vertanen Chance.

Hanne, Kind des Hafens

Denn viele andere europäische Beispiele für die Umstrukturierung von Häfen tendieren zum Erhalt der Becken. Wohnen am Wasser ist eben das Nonplusultra. Wir sind am Wendebecken angelangt, hier darf ich Hanne fotografieren. Aber nur von weitem. „Hier war früher ein Strand, hier hab‘ ich gebadet“, erzählt Hanne und deutet auf das Beckenrund vor uns. Die Schiffe wurden hier rückwärts in den Überseehafen geschoben und konnten dann eigenständig wieder hinaus fahren.

Den Europahafen gibt es noch, er ist gesäumt von neuen Wohnarchitekturen, alles sehr schick. Ein breiter Weg für Spaziergänger, Skater und Radfahrer, direkt am Wasser. Wir machen noch einen Stopp bei der „Golden City“. Der Name bezieht auf eine der alten Hafenkneipen. „Die Verruchteste!“ Hanne lächelt. Sie hat ja dort gewohnt, wo die Frauen an der Straße gegenüber standen. Und ihren Vater gefragt, was sie da tun und warum.

Daraufhin die märchenhafte Erklärung des Herrn Papa: „Die Matrosen sind ja so lange unterwegs auf hoher See und so einsam. Die Frauen, die dort stehen, trösten die Männer und haben sie lieb. Dafür geben die Matrosen ihnen Geld.“

Klein-Hanne war zu Tränen gerührt und hatte gleich einen fixen Berufswunsch vor Augen. Natürlich nicht lange. Heute ist das „Golden City“ eine aus Fässern, alten Türen und Fenstern gezimmerte Location am Kopf des Europahafens. Eine temporäre Hafenbar, ein Kulturprojekt, eine Mischung aus Kneipe und Eventlocation.

Temporäre Hafenbar: das Projekt Golden City.

Um eines braucht sich Bremen wirklich keine Sorgen zu machen: Leben zu schaffen im Zukunftsviertel Überseestadt. Ganz im Gegensatz zu Hafensanierungen in anderen Städten. Auch dieser Hauch von Melancholie ist Ausdruck von Leben: Die Sehnsucht nach dem alten Überseehafen lässt ihn weiter existieren wie einen geliebten Freund, der verstarb.

Zumindest, so lange es noch Leute wie Hanne gibt, die ihre Erinnerungen und Anekdoten rund um Schiffe, Matrosen, Kaffee und skandalöse Hafenkneipen teilen.

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an die Bremer Touristik-Zentrale für Kost und Logis während meines Aufenthalts in der Weserstadt. Und für die fachmännische Unterstützung meiner Recherchen. Nicht zuletzt auch danke an Hanne für ihren Einblick in die bremische Seele, ohne den dieser Artikel nicht zustande gekommen wäre.

11 thoughts on “Eine Kindheit im Hafen

  1. In Bremen war ich bisher zwar noch nie, aber jetzt habe ich das Gefühl irgendwie auch dabei gewesen zu sein :) Richtig schöne Bilder und Eindrücke von Bremen. Ich liebe es auch immer wieder die persönlichen Geschichten der Menschen vor Ort kennenzulernen. Liebe Grüße aus München, Vanessa

    1. Danke, Vanessa! Ja, du hast recht, manchmal hat man einfach Glück auf der Reise, trifft interessante Menschen und bekommt einen ganz anderen Zugang…
      Liebe Grüße zurück!
      P.S.: Ist es bei euch auch so schön warm? ;-)

  2. Moin Elke,

    danke für den tollen Artikel. Der gibt die Atmosphäre in der Überseestadt sehr gut wieder. Ich glaube, ich muss auch mal mit Hanne auf Tour gehen, wenn ich schon in Bremen vor Ort bin. Das macht bestimmt Spaß.

    Ein kleiner Hinweis allerdings noch von mir als „Bremen-Profi“: Die Brücke, hinter der Amerika beginnt, ist die Stephani-Brücke, bzw. die Eisenbahnbrücke direkt dahinter. Dort ist der Übergang von Binnen- zu Seeschifffahrtsstraße.

    Ansonsten hoffe ich, dass es dir bei uns gefallen hat und dass du bald mal wieder reinschaust :-)

    Viele Grüße,

    Carolin

    1. Hallo liebe Carolin,

      danke für den Hinweis! Muss ich gleich ändern. :-)

      Schade, dass ich zu dem Spiel am 7. September nicht kommen kann, aber ich komme auf jeden Fall wieder. ;-)

      Liebe Grüße und bis bald!

      Elke

  3. moin elke – der post freut mich aber besonders als bremer. von bremen liest man ja nicht jeden tag. toll die besondere stimmung eingefangen, denn die neue ecke von bremen ist wirklich sehr schoen geworden. jetzt ist es eine stadt am fluss und mit hafen und charme. war frueher nicht so. und bremen ist auch grossartiges radfahrrevier. vor allem auch auf den deichen, die entlang der nebenfluesse der weser fuehren. viele gruesse!

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