Vintage auf Estnisch

24 Stunden in Tallinn

Es muss etwas mit diesem Glücksindex zu tun. Oder mit der Nähe zum Wasser? In Städten wie Kopenhagen und Stockholm begegnen mir ungewöhnlich viele heiter-gelassene Menschen. Wie wird es wohl in Tallinn sein, frage ich mich auf die Ostsee starrend.

Ich komme mit dem Schiff aus Helsinki, die beiden Städte werden vom Finnischen Meerbusen getrennt. 80 Kilometer, das sind zwei Stunden auf dem Wasser, zwei Stunden aufs Meer schauen. Zwischendurch eine Kleinigkeit essen. Dann laufe ich vom Fährhafen zu Fuß zum Hotel und weiter – kreuz und quer durch die Altstadt.

Mein erster Eindruck: Auch wenn es sich um eine in Stein gemeißelte Schönheit handelt, wirkt der historische Kern von Tallinn nie wie eine Kulisse. Dafür passiert zuviel, und ich meine nicht das Touristenaufkommen im Sommer. Die Finnen, Deutschen, Russen, Engländer, Schweden, Spanier, Italiener, Japaner, die meist mit dem Schiff ankommen, genau wie ich.

Sommer in Tallinn
Sommer in Tallinn

Natürlich gibt es Souvenirläden en masse. Geschäfte voller Schaffelle, Wollsachen, Jacken und Pullis mit Ethno-Mustern. Und natürlich komme ich nicht umhin, ein Paar estnische Fäustlinge zu kaufen, handgestrickt, rotgemustert. Der nächste Winter kommt bestimmt, das ahne ich schon im August.

Insgesamt komme ich nur langsam voran, weil an jeder Ecke ein Motiv lauert: historische Kaufmannshäuser, Speicher, Giebel, Gassen, Innenhöfe. Das Meiste wirkt wie aus dem Ei gepellt, Spuren des Verfalls sind hier und da zu sehen.

Nichts für Highheels
Nichts für Highheels

Dabei hat Tallinn Glück gehabt: Im 2. Weltkrieg wurde es größtenteils von Bombardements verschont. Doch insgesamt hat es viel Pech gehabt. Seine lange Geschichte der Fremdherrschaften ließ es mit der Wiedergeburt der Republik Estland im Jahre 1991 hinter sich.

Im beliebten Pfannkuchen-Lokal „Kompressor“ sitzen fast nur Einheimische an voll besetzten Tischen. Deswegen muss ich mir ein anderes Café suchen. Auf dem zentralen Platz vor dem Rathaus wird gerade geheiratet. Alle Menschen, die den „Raekoja plats“ bevölkern, scheinen nur darauf zu warten, dass das Brautpaar sich zeigt. Die Spannung kurz vor dem Jubel.

Ich liebe solche Spektakel, setze mich ins Restaurant „Kaerajaan“, das estnische Küche reloaded verspricht, und habe den ganzen Platz im Blick. Egal, ob touristisch oder nicht. Eine gute Wahl, allein weil die Abendsonne noch einmal alles gibt, um mir den Tag zu vergolden. Und es mundet! Erster Gang: Suppe mit lokalen Fischen und Gemüse. Zweiter: Buchweizen-Pfannkuchen mit Forellen-Rogen, Schmand und Zwiebeln. Getoppt wir das Ganze vom vermutlich besten heißen Schoko-Kuchen der Stadt plus Sorbet aus frischen Beeren.

Am nächsten Morgen entdecke ich meine neue Lieblingskirche namens Heiliggeist, was auf Estnisch wunderbar klingt: „Pühavaimu kirik“. Eigentlich mag ich keinen Eintritt für Kirchen zahlen, investiere aber gerne einen Euro, wenn es der Instandhaltung dieses Schätzchens dient. Freiwillig hätte ich es allerdings noch mehr gegeben.

Im Weckengang

Ich mag den Kontrast der schlichten weißen Wände zum dunklen Holz und die Asymmetrie des Mittelalters. Ich mag dieses Kirchlein ohne Superlative. Pühavaimu ist nicht die höchste, nicht die wichtigste und vor allem nicht die prachtvollste Kirche von Tallinn. Sie erfüllt aber die Grundfunktion einer Kirche, sie wirkt einladend und beschützend.

Die kleine Gasse zur Rechten lockt mich an, sie heißt Saiakangi, auf Deutsch: Weckengang. Wenn das kein gutes Omen ist! Ich nehme ein zweites Frühstück im Saiakangi-Café und freue mich über das freie WiFi, das auch von anderen, mit Laptop ausgestatteten Gästen meines Alters eifrig genutzt wird.

Fast werde ich zur Veganerin in der estnischen Hauptstadt. Schuld hat das Restaurant „V“ auf der Rataskaevu und vor allem seine Tapasplatte. Mit diversen Pürees, gegrillten Zucchini, gefüllten Gurken und dem leckersten Tofu meines Lebens. Eigentlich hasse ich Tofu, aber im „V“ werde ich eines Besseren belehrt.

Was noch fehlt, ist Tallinn von oben. Also laufe ich zur Kohtuotsa Aussichtsplattform und dränge mich zwischen die anderen Besucher, die den Blick auf die Dächer der Altstadt genießen. Eigentlich kann man sich hier kaum verirren, doch ich finde den „Ausgang“ vom Domberg nicht mehr, laufe im Kreis.

Irgendwann klappt es, ich finde eine Gasse, die geradewegs hinunter in die Unterstadt führt. Tallinns Lage am Meer war von oben schön zu sehen, doch was tut sich direkt am Ufer? Der Himmel hat sich zugezogen, als ich im Stadtteil Kalamaja ankomme.

Das coole Kalamaja

Übersetzt heißt es „Fischhaus“ und wurde auch in der Vergangenheit von Fischern und Bootsbauern bewohnt. Heute noch findet der Fischmarkt „Kalaturg“ jeden Samstag von 10 bis 16 Uhr in Ufernähe statt. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Kalamaja Industriestandort, und viele der Arbeiterhäuser aus dieser Zeit sind heute begehrte Objekte der estnischen Bohème.

Kunst, Design und Avantgarde zogen in Kalamaja ein, auch wenn es im Grau des Sonntagnachmittags etwas verlassen wirkt. Ich entdecke „Klaus“, den Hot Spot von Kalamaja. Das Lokal ist in einem Teil des Estonian Design House untergebracht.

Die Gäste sind hip und cool, der Kellner sieht mich durch seine enorme Hipsterbrille an und hat sich im übrigen dem Motto „Schweigen ist Gold“ verschrieben. Immerhin ist es möglich, einen Kaffee zu ordern. Wenig später mache mich auf den Rückweg, um meine Fähre nach Stockholm zu erreichen.

Wieder fällt mir dieser riesige Betonklotz in der Nähe des Hafens auf, in der Form einer flachen Pyramide, mit einer Art Promenade auf dem Rücken. Verfallen, mit Graffitis besprüht und voller Glasscherben, wie es sich für eine ordentliche Ruine gehört.

Beton aus der Sowjetzeit
Beton aus der Sowjetzeit

Trotzdem scheinen sich die Liebespaare und andere auf dem abbröckelnden Beton zu treffen, der laut der Auskunft in meinem Hotel aus der Sowjetzeit stammt. Die Linnahalle sei in den 80er Jahren im Rahmen der Olympischen Spiele errichtet worden. Bis 2001 wurde sie als Mehrzweckhalle genutzt, doch nun hat man kein Geld mehr, um sie instand zu halten.

Als ich wieder auf der Fähre bin, sehe ich die Altstadt mit ihren Kirchtürmen vom Wasser aus. Was für ein Glück, diese Lage am Meer. Ich war ja im Sommer dort, doch viele sagen, im Winter sein es noch schöner. Ich kann es mir vorstellen: Schnee, Kerzenschein, Mittelalter und WiFi im Café.

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an Tallink Silja, die diese Reise unterstützt haben.

7 thoughts on “Vintage auf Estnisch

  1. Ich habe mich auch sofort in Tallinn verliebt! Was ich noch empfehlen kann, ist der Culture Kilometer! Vorbei an einem Flohmarkt (der nicht von Touristen überrannt ist), an einem Gefängnis (das jetzt anders genutzt wird) bis hin zur Linnahall (Soviet-Relikt), ist es wirklich lohnenswert, diesen Walk zu gehen!
    Viel Spaß dabei!

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