Ein klarer, kalter Wintertag hat das übliche feuchtkühle Wetter der lombardischen Ebene verdrängt. Kein Nebel verklärt die grauen Straßen und hängt sich in impressionistischer Manier über die Kanäle – wie sonst so oft. Sonne über Mailand, über dem Viertel der Navigli.
In einer Bäckerei auf der zentralen Via San Gottardo halten zwei ältere Damen im Winterpelz ein Schwätzchen mit der Verkäuferin. Es geht darum, welcher der beste unter den Panettoni ist, eine Mailänder Erfindung aus dem 19. Jahrhundert. Vor allem an Weihnachten und Neujahr steht der kuppelförmige Hefekuchen mit kandierten Früchten und Rosinen hoch im Kurs.
Auf der Via San Gottardo zwischen Dolci und Panettone-Diskursen wird eines deutlich: Das Viertel Navigli wirkt weder schick noch urban, es hat Dorfcharakter. In einem oft planlosen Mischmasch an Bebauung haben die Hinterhöfe und niedrigen Häuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert neben modernen Palazzi, Mietskasernen und Betonklötzen überlebt.
Street Art und Graffiti zieren hier und da die Wände, ebenso wie Geranien die Fenster und Geländer. Trödelhändler, kleine Handwerkerläden und Galerien behaupten sich neben Supermärkten, Spezialitätenrestaurants und angesagten Clubs.
Wo genau das Viertel der Navigli anfängt und wo es aufhört, beschreibt der junge Hotelier mit einem vagen Kreis auf dem Stadtplan – ein gutes Stück südlich der geografischen Mitte Mailands mit Dom und Scala. Die Kanäle Pavese und Naviglio Grande sowie den ehemaligen Binnenhafen, die heute verwahrlost aussehende Darsena.
Im Viertel wird gemacht und getan: Allein die Anzahl der Baukräne ist ein Zeugnis dafür. „An der Darsena hat man Überreste der spanischen Mauern gefunden“, beginnt Luciano Bartoli zu erklären. Der unkonventionelle Vize-Präsident der „Associazione del Naviglio Grande“ ist Spezialist in Sachen Wiederbelebung der Navigli. Das Büro des Vereins ist in einem der idyllischen Hinterhöfe untergebracht, umgeben von Bäumchen, Topfpflanzen und Künstlerateliers.
Damit die Mailänder nicht nur nachts das Viertel stürmen, denkt sich die Vereinigung so Dinge aus wie den Antiquitätenmarkt in jedem letzten Sonntag des Monats oder die Ausstellung „Arte sui Navigli“ – Kunst an den Kanälen im Sommer. Und jetzt die Schiffstouren. Dass es nach über 25 Jahren nun wieder zum regelmäßigen Befahren der alten Wasserstraßen gekommen ist, stellt eine kleine Sensation dar.
Bis zum 19. Jahrhundert zeugte das dichte Netz der Mailänder Kanäle von einer optimalen Verbindung der lombardischen Metropole mit den oberitalienischen Flüssen und Seen sowie gen Süden mit dem Meer. Damit hatten sich die Mailänder einen alten Traum erfüllt, denn lange schon hatten sie neidisch zu den großen Seemächten Venedig und Genua hinübergeschaut.
Seit dem 11. Jahrhundert konstant erweitert, konnte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die gesamte bewohnte Zone Mailands per Schiff erreicht werden. Für den Bau des gotischen Doms gelangten die schweren Marmorbrocken über den Lago Maggiore und die Navigli bequem und schnell zur Baustelle.
Selbst Leonardo da Vinci machte in Mailand nicht nur mit dem Cenacolo, dem Abendmahl-Gemälde im Refektorium von Santa Maria delle Grazie von sich reden. Als Wissenschaftler war er auch mit den Niveau-Unterschieden der Kanäle beschäftigt und erfreute seinen fürstlichen Auftraggeber mit Entwürfen für Schleusen.
Bis zum 19. Jahrhundert schufen die Mailänder insgesamt 232 Kilometer an künstlichen Wasserwegen. Damals muss die Stadt wie ein italienisches Amsterdam gewirkt haben, ihre Schönheit wurde von den Reisenden gelobt.
Ein einsamer Angler sitzt heute um Ufer der Darsena und wartet geduldig. Doch im klaren, flachen Wasser ist kaum Leben erkennbar. Dabei galten die Kanäle, denen es an Frischwasserzufuhr aus dem Norden Italiens nie mangelte, einst als pflanzen- und fischreich. Schon im 13. Jahrhundert schwärmt der Mailänder Dichter Bonvesin da la Riva vom „acqua viva de sorgent pièna de pess e de gamber“, lebendigem Quellwasser voll mit Fischen und Flusskrebsen.
Doch da Mailand erst 1880 ein Kanalsystem bekam, wurden die Kanäle im Laufe der Zeit immer stärker von Abfällen belastet. Die inneren Navigli und die kleinen Seen existieren heute nicht mehr, ein Großteil wurde schon in den 30er Jahren zugedeckt. Unter faschistischer Herrschaft begann man mit dem Zuschütten der damals stinkenden Kanäle. Asphaltierte Straßen galten als Transportwege der Zukunft.
Bleiben die Kanäle im Süden der Stadt. Noch 1970 hatte das Navigli-Viertel viel vom ursprünglichen Charme, das zeigen die Momentaufnahmen von Maria Rosa Biassoni. Die Fotografin fing das Leben in den beschaulichen Innenhöfen, an den Ufern des Naviglio Grande und im sogenannten Wäscherinnen-Viertel ein.
Heute „arbeiten“ nur noch Touristen mit ihren Digitalkameras am Vicolo Lavandai, der Wäscherinnen-Gasse. Keine Frau schrubbt mehr ihre Wäsche über einer „brella di pietra“, einem der diagonal geschnittenen Steine. Doch der Name des Ortes, das windschiefe Holzdach und die Waschsteine haben den Frauen ein Denkmal gesetzt, die sich mit ihrer Arbeit einst ein Zubrot verdienten.
Auf einem Kissen knieten sie in einer Art Holzbank, dem „brellin“, die Ärmel hochgekrempelt, mit rundem Rücken über dem Stein und spülten die Wäsche im angrenzenden Becken klar. Hier floss das Wasser unermüdlich von der Darsena in den Naviglio Grande.
1979 hat der letzte Frachtkahn seine Last an der Darsena gelöscht. Über ein Vierteljahrhundert später sollte es wieder zum Schiffsverkehr auf den Kanälen kommen, auch wenn es sich nun Touristenboote handelt, die in der Darsena vor Anker liegen.
Ich steige ein, Mailand vom Wasser aus. Was mir während der Bootsfahrt ins Auge fällt, ist die rustikale Holzschleuse nach Leonardo da Vincis Plänen. Dass man sie sogar mit dem Materialvorschlag der Epoche rekonstruiert hat, kommt besagtem Luciano allerdings „fast wie in Disneyland“ vor.
Bis zur Expo 2015 in Mailand soll sich noch einiges tun auf den Navigli. Solarbetriebene Linienboote sollen die Kanäle befahren, und die Hauptstadt der Lombardei soll mit dem schweizerischen Locarno auf dem Wasserweg verbunden werden. Back to the roots also.
Die Navigli haben mit ihrem Bild von innerstädtischer Idylle viele Restaurants, Clubs und Open-Air-Lokale angezogen und bilden schon seit Jahren die beliebteste Ausgehzone der Stadt. Ab zehn Uhr abends hält sich Alt und Jung an den Kanälen auf.
Wenn dann im Frühling die Tische wieder ans Ufer gerückt werden: „Das ist wie am Meer“. Luciano lacht. Mailands alte Sehnsucht nach dem Wasser blitzt wieder auf. Irgendwie hat sie der Modernisierung getrotzt.
Text und Fotos: Elke Weiler
In Mailand war ich auch schon, aber nicht in diesem Viertel. Klingt ziemlich gut, ist das auch für den Sommer zu empfehlen? Viele Grüße, Simon
In der Weihnachtszeit ist die Stimmung an den Kanälen natürlich schön – wegen der Deko und so. Aber der Sommer lohnt sich wegen der Events: Musik, Kulinarisches und Kunst an den Navigli. Das Leben verlagert sich nach draußen, und alles ist intensiver. Schön ist auch, an den Kanälen entlang aus der Stadt hinaus zu radeln…