Der Canal Grande, Highway Venedigs, ist eine Straße ohne Geschwindigkeit. Eine Straße, die mich in die Vergangenheit versetzt, als wäre ich Teil eines Gemäldes von Canaletto. Eine Straße, die mich gleichzeitig im Hier und Jetzt leben lässt. Sie spricht, sie riecht, sie verändert sich ständig. Eine benutzte, eine lebhafte Straße.
Boote, Gondeln, Vaporetti tuckern, schlingern, gleiten den Kanal hinauf und hinunter. Sie halten an, entladen Waren und beladen neu. Ströme von Menschen ergießen sich an Haltestellen wie San Marco, Accademia und Rialto. Das geschäftige Venedig. Eine bunte, quirlige Stadt, so sah der Maler Canaletto sie vor drei Jahrhunderten. Bilder voller Licht, Stimmung und Leben.
Zwar ändert sich alles, doch Venedig scheint auf ewig schön und geschäftig zu bleiben. 20 Euro muss ich für eine Vaporetto-Tageskarte löhnen, die Inseln Murano und Burano sind inbegriffen. Das bestärkt mich in meinem Wunsch, so viel wie möglich Boot zu fahren, nicht nur auf dem Highway.
Das ganz normale Leben in Venedig?
Gerade auf dem Canal Grande sind die Vaporetti tagsüber bis zum Bersten gefüllt. Stehst du zufällig an einem Ausgang, und die Haltestelle ist quasi erreicht, wirst du kurz und schmerzlos beiseite geschoben. Wozu großer Worte, wenn der Skipper noch nicht einmal weiß, in welcher Sprache er die Leute ansprechen soll? Wenn sie, die wie in Trance durch die alte Stadt wandeln, in dem ewigen Versuch all diese Schönheit festzuhalten, Magie für Handy, Tablet und Kamera, wenn diese Traumwandler auch auf barsches Englisch kaum mehr reagieren?
Doch es gibt sie noch, die Einwohner, es gibt noch Menschen, die versuchen, ganz banal in der Lagunenstadt zu leben und zu arbeiten. Die wissen, dass man abseits von Rialto und San Marco ganz schnell in stille Ecken gelangt, wo das Mädchen auf dem Campo mangels Grünfläche ihre Hunde laufen lässt. Wo der alte Mann die Katze auf dem Brunnen streichelt und der langhaarige Gondoliere ein überdimensioniertes Ruder schultert.
Was macht das venezianische Leben aus? Wie sind die Venezianer? Worauf legen sie Wert? Ich habe mich für eine Bacaro-Tour angemeldet. Denn von einer rustikalen Weinstube zur nächsten zu tingeln und ein paar Häppchen zu essen, scheint gute Sitte in Venedig zu sein. Unser Treffpunkt: der Campo San Bortolomio unweit der Rialtobrücke.
Bei der Statue des Dichters Carlo Goldoni sollen wir zusammenkommen, der Mann, der befand, dass die Welt wie ein schönes Buch sei, das demjenigen wenig nutzt, der es nicht lesen kann. Wie wäre es denn andersherum? Dass ganz viel Welt in einem Buch sein kann, vorausgesetzt, es ist gut geschrieben? Mit Signor Goldoni ist nunmehr schlecht zu diskutieren, unbeweglich wie er dasteht.
Treffpunkt: Carlo Goldoni
Derweil frage ich mich, ob die Gruppe, die etwas entfernt von Goldoni mit einem Schild bewaffnet wartet, meine Bezugsgruppe für die nächsten zwei Stunden wird. Zur Sicherheit bleibe ich beim Dichter stehen, bis man mich anspricht: Ja, sie sind es. Wir stellen uns einander vor, eine ältere Australierin auf Europatour, ein frisch verheiratetes asiatisches Paar aus den USA, ein Paar aus Schottland und schließlich Hazel.
Die Kubanerin lebt seit 2003 in Venedig und meint, dass Goldoni auch als Treffpunkt unter Einheimischen beliebt sei. Wir laufen ein bisschen durch die Gegend, sie plaudert über die Dogen und die Veränderungen rund um Rialto, bis wir vor einer der angeblich ältesten Kirchen der Stadt stehen: Die Chiesa San Giacomo di Rialto datiert allerdings auf das 17. Jahrhundert, auch wenn es Vorgängerbauten gab.
Mich interessieren die Häppchen zur Zeit mehr und das authentische venezianische Leben. „Cicchetti“ nennen sie ihre Tapas, die üblicherweise zur Bacaro-Tour gereicht werden. Zur Ableitung des Wortes „Bacaro“ gibt es wohl diverse Theorien. Kommt es von Bacchus, dem Gott des Weines? Von den Bacari, wie die Weinhändler einst betitelt wurden, die ihre Ware auf der Piazza San Marco in Venedig verkauften? Oder vom venezianischen Ausdruck für feiern „far bàcara“?
Il giro dei bacari
In Venedig scheint alles etwas anders zu sein, wenn auch auf seine Art logisch. So reden die Venezianer von Schatten, also „ombra“, wenn sie ein Glas Wein bestellen. „Un‘ ombra de vin“ zusammen zu trinken, das sei mehr als Genuss, quasi ein soziales Ritual, intensive Freundschaftspflege. Der Ursprung des Ausdrucks stammt aus den Zeiten, als die Weinhändler ihre Ware auf dem Markusplatz vertickten, immer darauf bedacht, dem Schatten des Campanile zu folgen, damit der Wein schön frisch bliebe. Es meint also nicht, dass es schattig bis dunkel draußen sein muss, um ein Gläschen zu heben.
Man sagt, es gäbe die höchste Dichte an Bacaro-Lokalen in den Vierteln San Polo und Cannaregio. Zufällig wohne ich in San Polo, und mir sind bereits die jungen Leute aufgefallen, wie sie abends gemütlich vor den kleinen Lokalen herumstehen. Der Weg zu unserer ersten Weinstube ist nicht weit. Wir beginnen in der dunklen Osteria „Ruga Rialto“ – fast eine Sünde bei dem schönen Wetter.
Wir trinken Prosecco, dazu gibt es frittierte Fischchen und Fleischbällchen. Angeblich gehen die Venezianer gerne abends zwischen sieben und neun Uhr auf eine Tour von etwa zehn Bacari und mehr. Nach dem zweiten Glas erscheint mir diese These steil. Immerhin können wir dabei schön in einer Gasse sitzen, und die Australierin erzählt mir von einem einschneidenden Erlebnis in Portofino, als doch tatsächlich ein wunderhübscher Gigolo…
Zum Sonnenuntergang zur Salute
Der Prosecco ist gut, die Stimmung steigt, unser „giro dei bacari“ scheint auszuufern. Nach dem dritten Lokal namens „Black Jack“, bei dem wir nur noch lässig vor der Tür stehen und Häppchen kauen, verliere ich die Gruppe. Ich verliere mich in den Gassen des Viertels, rette mich zurück ans Ufer des Canal Grande, mitten im Strom der Menschen, diesem ewigen Strom venezianischen Lebens.
Ich fahre Boot. Hin zu meiner Kirche, der legendären Santa Maria della Salute, geliebter Gegenstand meiner kunsthistorischen Abschlussarbeit. Von dort sind es nur ein paar Schritte zur Punta della Dogana, wo der Blick übers Wasser wandert bis zu den Inseln Giudecca, San Giorgio Maggiore und daran vorbei. Hier bin ich zurück in Dorsoduro, meinem Lieblingsviertel in Venedig.
Hier ergießt sich der Canal Grande in die Lagune, hier kreuzen die Schiffe, die nach Kroatien oder Griechenland fahren. Hier versammeln sich ein paar Kenner für den Sonnenuntergang, picknicken oder schauen einfach aufs Wasser. Oder wozu wären sie sonst in Venedig?
Text und Fotos: Elke Weiler
Danke für diesen wunderbaren Bericht! Venedig steht bei mir ganz oben auch der Liste…hach…irgendwann wird das schon…Liebe Grüße, Lotta.
Danke, Lotta! Ich drück‘ dir die Daumen!!
Liebe Elke,
sehr schön geschrieben! Einmal im Jahr und zwar im November besuche ich Venedig, alleine nur mit meiner Kamera. Jeder Besuch ist anders und wunderbar!
Liebe Grüße
Claudia
Danke, liebe Claudia! Der November muss sehr schön sein in Venedig, hattest du viel Nebel? Hochwasser? Liebe Grüße von der Nordsee, Elke
Liebe Elke,
ich hatte leider keinen Nebel! Ich wollte doch unbedingt so schöne Fotos machen, Venedig im Nebel….
Hochwasser gab es auch nur ein wenig, es lohnt sich nicht drüber zu berichten! ;-)
Dafür hatte ich sehr viel sonnige Tage und schöne Fotos habe ich auch ohne Nebel gemacht!
Liebe Grüße aus Berlin
Claudia
wow, da muss ich auch hin!
Sehr schöner Bericht! Ich fahre immer wieder gerne nach Venedig. Wer noch nicht da war, sollte unbedingt dorthin