Nördlich von Vilnius sei er zu finden, der geografische Mittelpunkt Europas. Das haben nun, nachdem in der Vergangenheit Orte in Polen, Österreich, Bayern und in der Ukraine eine eigene Stelle proklamierten, französische Wissenschaftler nach neuen Berechnungen herausgefunden.
Uns überrascht das schon, da wir uns in Litauen relativ weit im Osten des Kontinents wähnen. Abgesehen davon, dass ja keiner genau weiß, wo Europa aufhört und Asien anfängt, ist es natürlich eine Sache der Perspektive. Mal nicht wissenschaftlich betrachtet.
In Vilnius sind wir also nahe dem Zentrum, und im Europos Parkas noch näher. Zumindest sorgt Gintaras Karosas dafür, dass es niemandem verborgen bleibt. In einem 55 Hektar großen Waldstück, 20 Autominuten von der litauischen Hauptstadt entfernt, hat der Bildhauer sich einen Traum verwirklicht: eine Skulturensammlung mitten im Wald.
Litauische wie internationale Künstler haben sich hier verewigt, verstreut liegen über 100 Werke zwischen Kiefern und Eichen, dem typischen Mischwald der Region. Mal über einen Pfad zu erreichen, mal mitten drin. Dafür muss man sich manchmal verlieren, vom Weg abkommen – doch kein Problem: Wir haben eine geführte Tour gebucht. Mit dem Fahrrad.
Über Stock und Stein geht es durchs Gelände. Mal hoch, mal runter. Immer wieder absteigen, schieben, die Räder abstellen, ein Kunstwerk betrachten. Oder sogar ausprobieren. Denn einige von ihnen sind beweglich, wie das „Requiem für ein Pony“ des in Frankreich geborenen Laurent Mellet.
Eine rostige Skulptur aus recyceltem Stahl, die per Hand in Bewegung gebracht werden kann, worauf sie ächzt und stöhnt und quietscht. Nicht weit davon die überdimensionierten Blätter des Landschaftskünstlers Strijdom van der Merwe aus Südafrika.
„Den Wind fangen“ – es ist ganz einfach: Du positionierst dich halb auf einem gewölbten Blattstengel, drückst mit dem anderen Fuß kräftig ab und drehst wie ein Blatt im Sturm. Wer hätte gedacht, dass sich eine schwere Stahlskultpur so leicht in Schwung bringen lässt?
Wird dem Laub beim Tanzen im Herbstwind schwindelig? Wie mir jetzt? Mitten im Wald. Es ist ein Gefühl von Kindsein auf dem Spielplatz. Leicht und unbeschwert wie eben das Flattern der Blätter in der wirbelnden Luft.
Wobei es auch Kunstwerke im Europapark gibt, die so federleicht sind, dass sie tatsächlich vom ersten leisen Lüftchen bewegt werden. Etwa die hellen Segel der Französin Corinne Béoust – zwischen hohen Kieferstämmen angebracht. Sie sollen an die sich langsam lichtenden Nebelschwaden im litauischen Wald erinnern, eingefangen von kunstvollen Gebilden der Spinnen.
Auch ungeführt würden wir hier alle Nase lang über eines der zahlreichen Kunstwerken stolpern. Einfach durch den Wald streifen und etwas entdecken, dass von hier zu sein scheint. Die eiförmigen Felsblöcke der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz – sie sind augenscheinlich mit dem Ort verwachsen.
Das Material, mit Spuren der umgebenden Natur überzogen: Moos, Schnecken. Die abgerundete Form der Monolithe. Nicht zuletzt die Ausbildung des Raumes durch die Verteilung der schon mystisch wirkenden Stein-Eier – all das lässt uns verweilen, umherwandern, erfahren. Was auch immer. Es nennt sich: „Raum des unbekannten Wachstums“.
Der Gründer des Skulpturenparks wollte eben dies. Einen Raum schaffen, in dem Kunst, Natur und Menschen aufeinandertreffen. Bevor 1991 die ersten Dinge in den Wald kamen, herrschte hier eine „wilde Atmosphäre“. Und das ist trotz der Kunst, des Cafés, der Menschen manchmal immer noch so. Ein Glück.
Gintaras Karosas hat selbst viele Werke für den Park geschaffen, unter anderem das „Symbol des Europaparks“. Denn schließlich soll die Mitte des Kontinents ganz hier in der Nähe sein. Rein wissenschaftlich gesehen.
Text und Fotos: Elke Weiler
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