Wir sind in Hjerpsted gelandet, nördlich von Højer. Die deutsch-dänische Grenze ist nur 17 Kilometer entfernt. Wir bleiben an der Westküste, wir bleiben am Wattenmeer und doch ist alles anders. Das Land leicht gewellt, kein Deich, keine Schafe. Der Blick schweift über Wiesen und Felder bis zum Wasser. Wie von einem Balkon. Es ist kein Marschland, auf dem wir stehen, sondern ein Moränenhügel aus der Saale-Eiszeit, der als Emmerlev Klev zwischen Emmerlev und Hjerpsted am Rande des Wattenmeeres abbricht.
Die Abbruchkante ist sandig und eher flach auf Höhe von Hjerpsted. Die Geest reicht bis ans Wasser, beziehungsweise an einen Streifen Strand, der je nach Tide mal größer, mal kleiner wirkt. Zum Baden eignet sich das Meer nicht, da überall größere Steine im Wasser liegen, die vor allem bei Ebbe zu lokalisieren sind. Manch glatte, dunkle Oberfläche ragt bei Hochwasser aus dem Meer und glänzt feucht wie der Kopf eines Seehunds. Jedes Mal täuscht mich so ein uralter Stein. Jedes Mal denke ich, hoffe ich, es ist eine Robbe.

Sylt und Rømø liegen vor der Haustür. Wie Riegel liegen sie vorm Festland, ungleiche Schwestern, verbunden durch die Syltfähre. Nicht selten sehen wir zwei baugleiche Fähren vor den Inseln, die sich während der Fahrt kreuzen. Die Verbindung scheint beliebt zu sein, manch einer nutzt sie als Alternative zum Niebüller Autozug. Ich habe es mal ausprobiert, als ich im Norden von Sylt unterwegs sein sollte und war erfreut über die Strandkörbe an Bord. Allerdings gibt es nur wenige, und die sind flott besetzt.
Hjerpsted, Hort der Ruhe
Als wir in Hjerpstedt ankamen, grüßte uns ein älterer Mann freundlich. Er winkte, obwohl er die Autos nicht kennt. In Nordfriesland überlebst du gesellschaftlich nur, wenn du mindestens hundert Kennzeichen oder Autos mit den dazugehörigen Besitzer:innen identifizieren und sicher grüßen kannst. Sonst gehst du als Snob oder so durch. Bei Tempo 100 macht es eh nur wusch, wusch , wusch. Wie soll man da etwas erkennen? Auf der anderen Seite der Grenze geht es bekannterweise gemütlicher zu. Und du grüßt einfach, wenn ein jemand oder ein Auto vorbeikommt. Es ist wenig los in Hjerpsted, das hat Vorteile.



Rechts und links des Weges gepflegte Backsteinhäuser mit Reetdächern, nicht wenige aus dem 19. Jahrhundert. Nur die Kirche von Hjerpsted stammt aus dem 18. Jahrhundert, doch sie steht außerhalb des Weilers. Noch ein Stück näher am Meer. Unser Ferienhaus war mal eine Schule, deren Schulraum zwar ummöbliert wurde, dennoch sind ein paar alte Bänke und eine riesige Tafel erhalten. Der Geruch von alten Büchern. Das knarrende Holzparkett. Ich sehe sie vor mir, die rauchenden Köpfe der Schüler:innen unterschiedlichen Alters und Größen. Wir vermuten, in der einstigen Wohnung des Lehrers oder der Lehrerin zu wohnen. Der Garten dehnt sich nach hinten in einem gleichmäßigen, baumumrandeten, weiten Rechteck aus. Äpfel und Mirabellen an den Bäumen.
Wir sehen die Kühe. Wir sehen das Meer.
Die Kühe von Hjerpsted scheinen kein schlechtes Leben zu führen. Sie können sich parallel zum Weiler bewegen, so dass sie oft zwischen den Bewohner:innen und dem Wasser stehen. Als gehörten sie untrennbar zum Panorama dazu, diese Kühe vorm Meer. Manchmal trifft man sie am südlichen Ende, manchmal am oberen Byvej, der sich durch den Weiler zieht wie eine Hauptstraße ohne Verkehr. Ein Weg ohne Straßenmarkierungen, wohl aber in perfektem Zustand. 50 km/h sind erlaubt, doch alle fahren langsamer. Kein Vergleich mit der nordfriesischen Durchschnittsstraße. Unsere wird gerade saniert, darum sind wir über die Grenze geflohen. Bei Baulärm können weder die Hunde schlafen, noch die Menschen telefonieren oder anderweitig arbeiten.

Der Byvej und Hjerpsted im Ganzen kommen uns wie ein Hort der Ruhe vor. Gerade im Sommer sind es wesentlich mehr Fahrradfahrer, die hier entlangziehen. Manchmal der Bus nach Tønder, morgens der Biomilchlaster. Wer ist Einheimischer, wer unterhält ein Ferienhaus, wer übernachtet in einem? Die Gärten wirken so gepflegt bis auf das wunderschöne unbewohnte Haus in der Mitte, ein ehemaliger Hof mit Scheune, das Reetdach hat Löcher. Rundherum ein ebenso schönes Grundstück, stark verwildert. Eine Allee, die zum Eingang führt, vielleicht die höchsten Bäume des Ortes. Verwunschen wirkt es, melancholisch, vereinsamt.
Trotz seiner Überschaubarkeit verfügt Hjerpsted über einen Versammlungsplatz auf der Wiese nebst Seerosenteich, Holztisch, Bänken, einer Hütte sowie einem Shelter mit Gründach. Das Gras ringsherum akkurat geschnitten. An manchen Abenden treffen sich die Leute dort, an anderen steht ein Reiher wie eine einsame Skulptur in der Landschaft. Manchmal schreit er und es klingt wie ein verzweifeltes Bellen. Immer wieder sieht man ihn aus dem Schilfkranz rund um den Teich auftauchen, er scheint einer der festen Einwohner von Hjerpsted zu sein.
Gecko am Abend
Wie der neugierige Gecko, der plötzlich auf dem Rücken des Mannes klebt, als dieser ein paar Holzstühle aus dem hinteren Teil des Gartens hervorholt. Wir stellen sie so hin, dass wir vom Garten aufs Meer schauen können, doch der Tisch wirkt wenig stabil. Also werden wir uns wieder an den langen Gartentisch setzen und auf die Hunde, die Bäume und die Weide der Kühe schauen. Gegen Abend kommen sie manchmal vorbei und blicken den kleinen Hund neugierig an, der sich bellend vorstellt. Für Vivi ist alles neu und aufregend. Sie liebt es.
Das Gebell ruft auch Julchen auf den Plan, die meist an wechselnden Plätzen im Garten chillt. Einer davon ist unter dem Trampolin. Dort ist sie sogar vor Regen geschützt, sagen wir, bei einer kurzen Schauer. Einen der schnellen Wetterwechsel von Westen bekommt sie dort unten kaum mit. Den plötzlich verdunkelten Himmel, den aufkommenden kräftigen Wind. Doch ich weiß, dass ihr der Wind gefällt. Weht er mal nicht oder nur lau, empfindet sie das schon als drückend, ganz die Westküstenbewohnerin.

Auch wenn das Haus im Innern eher zweckmäßig und für größere Familien eingerichtet ist, einige Dinge auch renovierungsbedüftig sind, fühlen wir uns von Anfang an wohl. Die Ruhe des Ortes umhüllt uns wie ein Kokon. Ob Mensch oder Tier, wir atmen auf. Auch wenn wir teilweise arbeiten müssen, tun wir das viel entspannter. Ich leihe mir ein Rad von einem Anbieter aus Haderslev, der mit Partnern vor Ort zusammenarbeitet. So wird mir mein Rad aus Høyer gebracht und ich freue mich auf regelmäßige Runden. Zu Fuß brauchen wir 20 Minuten zur Wasserkante, mit dem Rad weniger als die Hälfte. Auf dem Rückweg vielleicht etwas mehr wegen der Steigung. Doch die drei Gänge meines Rads reichen völlig aus.
Die Stunde der Mücken
Abends zieht es viele nochmal zum Sonnenuntergang an die Wasserkante. Manche picknicken gar. Grillen zirpen, die Stunde der Mücken schlägt und ich beobachte die Seehundköpfe, um die sich das Wasser wiegt. Die Woche ist im Nu vorbei. Ein Bummel durch Tønder, einer durch Højer, ein kurzer Besuch bei den hübschen Kirchlein in Emmerlev und Hjerpsted. Leider geschlossen.

Dann ist es soweit. Ich muss das Fahrrad wieder abgeben. Morgen Abend wird es abgeholt. Übermorgen fahren wir nach Hause. Zurück zur Straße, auf der normalerweise Tempo 100 erlaubt ist, die jedoch derzeit brachliegt, gefräst, mit offenen Rändern, Schotterlöchern und harten Kanten. Zurück in unser schönes Haus.
Aber noch sind wir da.
Der letzte Abend am Strand. Zwei Sonnen nähern sich einander, bereit zu verschmelzen, wenn die Zeit gekommen ist. Der Himmel wird lila. Flüssige Wolken, das Meer still wie ein See. Es schillert in Hellblau, Orange, Lilarot. Eine Möwe schaukelt ins Nirvana. Im farbigen Seewasser. Wo alles nur halb ist oder doppelt. Das Schilf, die Steine, der Blasentang. Zwei Köpfe hat die Möwe, zwei Schwänze. Zwei andere Möwen sind im Clinch. Geschrei, das verstummt. Kindergeplänkel, das bleibt. Unermüdlich plappern sie. Freude am Wasser, Freude am Leben. Dann exakte Geometrie, ein Sonnenkreis, ein Lichtbalken. Fast statisch. Ich gehe jetzt, steige noch einmal aufs Rad, nehme noch einmal die Straße zurück ins Ferienhaus. Keine Öko-Kuh weit und breit. Grillen zirpen, müde drehen sich die Windräder hinter den Feldern. Kein Auto weit und breit. Nur Stille.
Text und Fotos: Elke Weiler