El Castillo ist der erste Ort nach San Juan del Norte – der erste Ort nach zirka 150 Kilometern über den Río San Juan, mitten durch den Dschungel. In die Langsamkeit der Fahrt im Pangaboot versunken, reißt uns El Castillo aus den Tagträumen. Wir sind da.
Über einer Reihe bunter Holzhäuser am Ufersaum erhebt sich die spanische Fortaleza de la Immaculada Concepción. Im 17. Jahrhundert versuchten britische Seeräuber immer wieder, an ihr vorbei zu kommen.
Doch die Festung stellte sowohl für den berüchtigten Henry Morgan als auch für Lord Nelson ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg ins Landesinnere dar. Auch wenn wir uns das heute schwer vorstellen können.
In El Castillo ist die Zeit stehen geblieben, wie im ganzen Osten Nicaraguas: Jungen reiten auf Eseln über die Hauptstraße, freilaufende Hühner, Pferde und Schweine kreuzen unseren Weg.
Wo Lord Nelson scheiterte
Von den etwa 1000 Einwohnern des Ortes scheinen die meisten Kinder zu sein. Die Wege sind lehmig, Rauch liegt in der Luft. Mitsamt des Gepäcks kletterten wir die Stufen hoch zur Albergue El Castillo.
Es hat sich gelohnt: eine Hängematte und der Blick von der Veranda über das Dorf bis hinunter zum Fluss. Sachte schaukelnd in Mittelamerika – das sind die großen kleinen Freuden des Lebens.
Ich sehe dorthin, wo Lord Nelson scheiterte. Aber es werden keine Piraten kommen. Wir werden später noch Flusskrabben mit Salat essen und ganz friedlich auf den 15. September warten, wenn die Party steigt.
Der Tag der Unabhängigkeit
Morgens um fünf krähen die Hähne noch unermüdlicher als sonst. Gefolgt von Trommelwirbeln: Ein Fanfarencorps holt El Castillo aus den Federn. Eigentlich nicht meine Zeit, doch an Schlaf ist nicht mehr zu denken.
Feuerwerkskörper werden auf beiden Seiten des Río gezündet, die Ufer ersticken im Qualm: Ganz Mittelamerika feiert den Tag der Unabhängigkeit von Spanien. Ein dreitägiges Fest der Freude – auch nach über 190 Jahren.
Nelson trägt wie die anderen Jungen und Mädchen des Corps ein weißes Hemd. Schon am Morgen ist es warm, deshalb hat er das Jackett der blauen Uniform mit den Goldknöpfen und Kordeln gleich ausgezogen.
Auf zum Nicaragua-See
„Kommt mit auf unser Boot“, lädt er uns spontan ein. Mit großem Tamtam setzt sich der Konvoi in Bewegung. An der Grenze zu Costa Rica springen alle aus ihren Booten und klettern durch die sengende Sonne den Hügel hinauf.
Oben beginnt der feierliche Ernst: In würdevoller Haltung singen die Nicas ihre Nationalhymne. Zwei der Männer hissen die blau-weiße Fahne. Nelson und das Corps spielen, was das Zeug hält: Freude schöner Götterfunken!
Nach der Feier verlassen wir El Castillo. Bald ist der große Moment gekommen: In ein paar Stunden erreichen wir den Ursprung des Río San Juan. Hinter San Carlos weitet sich der Horizont ins Unendliche.
Heiliges, süßes Wasser
Ein Meer im Innern Nicaraguas – die Nahua-Indianer nannten den größten Binnensee Mittelamerikas „cocibolca“. Für sie war er das „Heilige Wasser“. Den Spaniern erschien er als „mar dulce“, Süßwassermeer.
Da ein kräftiger Regen eingesetzt hat, bedecken wir das Gepäck mit Plastikplanen. Die aufgebrachten Wellen des „cocibolca“ peitschen gegen das kleine Boot. In grauer Vorzeit eskalierten die Geschehnisse hier: Die Erdplatten Nord- und Südamerikas stießen aufeinander und schlossen das Wasser ein.
Das Panga kämpft gegen den aufgewühlten See. Die Wolken tauchen in das Wasser, die Elemente verschmelzen: Wir sind eins mit der Umgebung, verlieren das Gefühl für Raum und Zeit. Alles ist Wasser.
Das Land der zwei Berge
Doch schon bald strahlt die Sonne wieder. Als vor unseren Augen zwei perfekt konische Vulkane aus dem See wachsen, wissen wir: wir haben Ometepe erreicht. Das indianische Wort für Land der zwei Berge.
Das ungewöhnliche Bild der Vulkan-Zwillinge im Wasser rückt immer näher, wächst zu majestätischer Monumentalität. Rund um die beiden Vulkane leuchtet das Land tiefgrün. Die Menschen dort leben von der Landwirtschaft und ihren Legenden.
Denn mitten im Heiligen Wasser, zwischen zwei magischen Bergen, ist Platz für Fantasie. Für Mythen. Für unerklärliche Dinge.
Bei Sonnenuntergang sehen wir endlich die Küste, das Lichtermeer einer Stadt flackert und lockt. Keine Affenschreie, keine Tukanrufe mehr. Es ist das Ende der Langsamkeit.
Text und Fotos: Elke Weiler
Aus der Reihe “Archivgeschichten”: Als ich noch analog fotografierte und als Reisejournalistin für Tageszeitungen und Magazine unterwegs war, hatte ich die Gelegenheit, mit dem Pangaboot über den Río San Juan zu fahren – vom Delta bis zur Quelle.
Danke an Martinair und Solentiname Tours, die diese Reise unterstützt haben.
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