Der Fahrtwind bläst die hohe Luftfeuchtigkeit weg. Über dem Río San Juan türmt sich eine fantasievolle weiße Plastik in die Höhe, die Wolken scheinen auf der tropischen Luft zu segeln.
Wir gleiten über den Grenzfluss zwischen Costa Rica und Nicaragua. Ein leichter Benzingeruch umgibt das Pangaboot aus Fiberglas, das Knattern des Motors übertönt den Klang des Dschungels. Alle schweigen. Wir sind in einer anderen Welt: Es gibt nur noch Wasser und Wald.
„Bienvenidos en Nicaragua“ steht in großen Lettern zwischen einer Holzhütte und einem Brotbaum. Der bewaffnete Grenzbeamte hat nicht viel zu tun. Freundlich lächelnd nimmt er unsere Pässe entgegen und erstellt Einreisebescheinigungen.
„Wo fahrt ihr hin?“, fragt er in Plauderlaune. Viel passiert hier ja nicht. „Richtung San Juan del Norte“, gibt John bereitwillig Auskunft. Der Botaniker bringt uns nämlich zum Flussdelta.
Ab und an taucht eine armselige Hütte am Ufer auf. Es gibt Bananen im Vorgarten und Zuckerrohr dahinter. Der Osten des Landes dümpelt vor sich hin, schon seit Ewigkeiten. Nur etwa 10 Prozent der über vier Millionen Einwohner Nicaraguas leben in der Atlantikregion. Für sie sind die Flüsse die wichtigsten Transportwege.
Grenzfluss Río San Juan
Umrahmt vom dichten Dschungel durchzieht der Río San Juan das Land auf knapp 200 Kilometern vom Nicaragua-See bis zur Karibik. Die Vegetation des tropischen Feuchtgebietes verschlingt uns. Ein Meer wie gewachster Palmblätter glitzert surrealistisch in der Sonne.
Wie mögen sich die Eroberer, die Männer um Kolumbus, gefühlt haben, als sie orientierungslos durch den Sumpf zogen? „Sie waren entweder verrückt oder gehörten zu den härtesten der Welt“, behauptet John. Wir sind mitten im Indio-Maíz-Reservat, zwischen Jaguaren und Manatees.
Doch John weiß: „Die kriegt man eher selten zu sehen.“ Für den Botaniker ist das Indio-Maíz-Reservat ein Paradies, er sieht und weiß. Seine Freunde unter den Rama-Indios haben ihn viel gelehrt. „Sie haben scharfe Augen“, meint John, „und kennen jede Pflanze!“
Plötzlich riecht die Luft nach Salz, und es erklingt der Rhythmus von Brandungswellen. Aus der Stille des geheimnisvollen Dschungels fahren wir auf eine Sandbank zu, dahinter tost die Karibik. Der Strand wirkt unberührt und wild: Treibhölzer liegen wie Skelette im schwarzen Sand, weit und breit keine Menschenseele. Wer die Einsamkeit sucht, hat sie hier gefunden. Baden muss ich hier nicht, wir drehen um.
Pancho, das Monster
Carlos Cruz aus Costa Rica hat die Wände der Indio Logde am Río San Juan bemalt. Im Foyer sind naive Abbilder des Lebens am nicaraguanischen „Amazonas“ entstanden. Fluss und Dschungel regen die Fantasie der Leute hier an.
„Wir haben ein Monster: Pancho!“, behauptet Carlos. Grinst er ein bisschen dabei? Wir glauben ihm nicht so recht. Trotz der „Gefahr“ haben sie mitten im Urwald die luftige Luxus-Logde wie ein kleines Weltwunder gebaut. Alles musste mit Booten hergebracht werden: spanische Keramik, Eukalyptus-Holz, Glas, Luftentfeuchter für die Zimmer.
Und nun kommen die Gäste, um inmitten der Geräuschkulisse des Urwalds zu leben. Dem Zirpen der Grillen, den Rufen des Tukans, dem Geschrei der Affen, dem Rascheln der Palmblätter zu lauschen.
Am Bau der Lodge waren viele Rama-Indios beteiligt. Der junge Lorenzo zum Beispiel. Mit dem T-Shirt wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Er setzt das Baseballcap wieder auf das lange schwarzglänzende Haar und blickt recht ernst drein.
„Nimm das Leben, wie es ist – leicht!“ rät John seinem Freund. Doch im zweitärmsten Land Amerikas zu einer indigenen Minderheit zu zählen, bedeutet alles andere, als die Leichtigkeit des Seins zu spüren.
Der vernachlässigte Osten Nicaraguas
Um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, verbündeten sich die Indios der Atlantikregion schon im 17. Jahrhundert mit den Briten. Und heute spricht Lorenzo besser Englisch als Spanisch.
1987 verabschiedeten die Sandinisten ein Autonomiegesetz für den Osten, das den ethnischen Minderheiten Nicaraguas ihre historischen Rechte und die Förderung ihrer Sprachen und Kulturen zusicherte. Doch Papier ist geduldig. Und in der nachsandinistischen Politik wurde die Region einfach übersehen.
Die Dämmerung bricht ein. Sonnenuntergang auf dem Hausboot „Rain Goddess“, das uns für eine Nacht beherbergt: Der Feuerball färbt Wasser und Wolken rot. Das Grün der Vegetation wird schwarz und unergründlich.
Plötzlich schreit Carlos: „Pancho!“ Mit einem Scheinwerfer strahlt er in den schlammigen Fluss: Dort bewegt sich ein riesiges Reptil, ein Krokodil. Der Maler grinst breit. „Pancho ist ein Monster“, sagt er stolz. Doch wir schlafen trotz der Nähe des „Monsters“ wie die Babys auf der „Rain Goddess“. Schon am nächsten Tag soll es weitergehen, und zwar in eine vergessene Stadt…
Text und Fotos: Elke Weiler
Aus der Reihe „Archivgeschichten“: Als ich noch analog fotografierte und als Reisejournalistin für Tageszeitungen und Magazine unterwegs war, hatte ich die Gelegenheit, mit dem Pangaboot über den Río San Juan zu fahren. Mehr über Nicaragua? Hier geht es nach El Castillo und Granada…
Hallo Elke,
ich bin durch zufall auf deine Seite aufmerksam geworden (habe sie hier travelontoast.de gefunden).
Und ich muss sagen, toller Blog. Die Bilder und deine Beschreibungen führen dazu das ich richtige fernweh bekomme :)
Ich muss sagen, gerade dieser Beitrag hat mich wirklich von deinem Blog überzeugt.
Ich habe deinen Blog jetzt unter meine Favoriten gespeichert und freue mich auf weitere Beiträge :)