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Nebelschwaden hängen über den Fennen Nordfrieslands, als ich in Richtung dänische Grenze steuere. Wie überdimensionierte Wellen aus Watte. Erst als ich den Damm nach Rømø erreiche, sind sie verschwunden, vom Erdboden verschluckt, in Luft aufgelöst. Nur noch Marschwiesen, bis mich das Meer von beiden Seiten umschließt. Was für eine Straße.
Mehr als neun Kilometer misst der Damm, errichtet in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Daher finde ich in meinem Reiseführer „Die Nordseebäder Schleswig-Holstein’s nebst Cuxhaven und Helgoland“ aus dem Jahre 1896 naturgemäß kein Wort darüber. Reisen war langsamer, und Autor Volckmann berichtet von hochrädrigen Wagen, die den Gast ein Stück durchs Watt bringen. Dann geht es mit der Segelschaluppe auf die „nördlichste deutsche Insel“.
Lieblingsinsel
In der Tat gehörte Rømø von 1864 bis zur Volksabstimmung 1920 zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein, also für eine relativ kurze Zeit. Volckmann bemerkt, dass sich die damals zirka 900 Einwohner „fast ausschliesslich des jütischen Idioms“ bedienten.
Das dänische Rømø zählt zu meinen Lieblingsinseln. Genau wie im heimischen St. Peter-Ording oder auf Amrum finde ich einen breiten, kilometerlangen, wüstenartigen Sandstrand. Mehr braucht man nicht. Das Meer. Zwei Drittel Himmel. Den unendlichen Horizont. Außerdem noch ein paar Hundewälder.
Überflüssig zu erwähnen, dass Urlaub mit Hunden Ende des 19. Jahrhunderts absolut kein Thema war. Auch wirkt der Autor des historischen Reiseführers weniger enthusiastisch als ich: „Wer Röm besucht und sich dort länger aufhalten will, darf keine großen Ansprüche stellen…“ Er vergleicht die Physiognomie der Insel mit der von Amrum: viel Sand, Dünen, Marschland, Heide.
Noch so eine Insel, die ich liebe, die aber Volckmann nicht so begeistern kann wie Sylt. Lediglich die Brandung auf der Westseite von Rømø könnte es mit Sylt aufnehmen, so findet er. Und „wer mit Einfachheit vorlieb nimmt, mag in Röm einen Aufenthalt nehmen und gleichzeitig als Pionier dazu beitragen, das Deutschthum in dieser ultima Thule zu verbreiten!“
Auf der Syltfähre
Im Jahr 1896 konnte sich Volckmann unbelastet von den Geschehnissen zweier Weltkriege äußern. Das Nationalbewusstsein war so frisch wie das 1871 aus dem Staatenbund hervorgegangene Deutsche Reich. Heute wirkt es wie das Relikt einer fremden Zeit. Wir leben eine ebenso lokale wie internationale Identität inmitten der globalisierten Welt.
Zu Volckmanns Zeiten boten sich Ausflüge von Rømø nach Sylt an, und zwar mit der „Schiffer- und Fischerbevölkerung“. Heute muss man sich ein Plätzchen bei den letzten Kutterfischern der Gegend suchen. Vielleicht entsteht genau an diesem Engpass der Wunsch nach Slow Travel. Nicht einfach nur Tourist zu sein, sondern einen Einblick in das Leben vor Ort zu erhalten, daran teilzuhaben.
Kein Fischer, der mich nach Sylt bringt. Ich nehme die unter zypriotischer Flagge kreuzende Fähre in Havneby (sprich: Haunebü), um Deutschlands nördlichste Insel zu erreichen. Drei, vier Kilometer Nordsee zwischen Havneby und List. Zwar war ich schon oft auf Sylt, jedoch noch nie im Norden der Insel. Die Strandkörbe an Bord sind bereits besetzt, als ich das Sonnendeck erreiche. Langsam ziehen wir am Sylter Ellenbogen vorbei, der sich dem Schiff als Landzunge aus Sand und Dünen entgegenstreckt. Wie eine Verheißung.
Das ungenierte Westerland
Bislang kam ich stets mit dem Zug in Westerland an. Der Hindenburgdamm wurde relativ früh errichtet, 1927, während man zu Volckmanns Zeiten noch mit dem Salon-Dampfer von Hamburg über Helgoland, Amrum und Föhr anreiste. Doch der Andrang auf Sylt muss schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts recht groß gewesen sein, das bestätigen die Aussagen des Autors.
„Das Badeleben in Westerland ist ein völlig internationales, grossstädtisch-ungenirtes und trotz des überaus lebhaften Treibens während der Hochsaison, trotz allen Comforts und teilweisen Luxus kann hier Jeder nach seinem Geschmack und – was oft in anderen Bädern erschwert ist – ganz nach seinen Verhältnissen, nach dem Inhalt seines Geldbeutels, leben.“
Kein Wunder also, dass das Strandleben auf historischen Postkarten so quicklebendig wirkt wie heute. Kaum ein Unterschied in 100 Jahren, sieht man von der Kleidung und der Form der Strandkörbe ab. Das heute eher austauschbar wirkende Westerland muss einst hübsch gewesen sein: „…elegante Villen, breite, wohlgehaltene Strassen, Kanalisation und elektrische Beleuchtung lassen auch den verwöhnten Grossstadtmenschen nichts vermissen.“
Endlich am Ellenbogen
Wieder beschleicht mich der Verdacht, dass dem Autor Komfort wie auch Zerstreuung im Urlaub äußerst wichtig waren, während heute viele Gäste in Nordfriesland einfach nur Natur, Ruhe und Meer suchen. Das sind die Gründe, warum ich Sylt an den Spitzen mag. In List nehme ich den Weg zum Ellenbogen, der mich mitten durch die Dünenlandschaft führt.
Der Sand der Westküste ist anders, gröber als in den Dünen. Man darf sie nur auf Trampelpfaden betreten. Naturschutz überall. Der Ellenbogen ist in Privatbesitz. Sechs Euro kostet es, ihn einen Tag lang mit dem Auto befahren zu dürfen. „Achtung, Schafe!“ quasi alle zehn Meter auf dem schmalen Weg. Nur wo bleiben sie? Schafe scheinen weniger als Schilder vorhanden zu sein.
Die Großartige
In meinem Reiseführer werden mit keinem Wort Schafe erwähnt. „List ist ein kleines Dörfchen… mit etwas hundert Bewohnern in weltferner Abgeschiedenheit, aber inmitten einer grossartigen Dünenformation.“ In den Dünen des Ellenbogens stehend sehe ich weiter südlich ein Flugzeug landen. Einen Airport haben die Sylter, doch keine Geburtenstation mehr.
Kitzelnder Strandhafer, Sand unter den Füßen, das Rauschen der Brandung. Am Ellenbogen erinnert mich Sylt noch am meisten an Amrum, für mich die wildeste der nordfriesischen Inseln. „Die Lieblichkeit, das Sanfte, Idyllische Föhr’s findet man nicht auf Sylt, wohl aber das Gewaltige, Grossartig-Packende, ja das Gigantische“, meint Volckmann. Bin ich auf einer anderen Insel?
Nach und nach bevölkern Radfahrer und Wanderer den Ellenbogen, die in raschelnden Funktionskleidern durch die Dünen kraxeln und dich als Erstes fragen: „Haben Sie etwas verloren?“ Habe ich nicht. Ich habe lediglich mein Stativ am Wegesrand deponiert. Nun, sie haben es beiseite geräumt, erklären sie. In Sicherheit gebracht. Dabei kommt in Nordfriesland nichts weg.
Die Gezähmte
Sylt wirkt selbst am Ellenbogen nett, ordentlich, aufgeräumt. Gezähmt. Das Wilde hat sich aufgebraucht mit fortschreitendem Tourismus. Ich spaziere mal an der West- und mal auf der Wattseite der Nehrung, finde Muscheln, Bäumchenröhrenwürmer, Krebse und Austern. Eigentlich eine gute Idee, denke ich. Für frische Austern bin ich im Norden der Insel goldrichtig.
Waren Wildaustern vor weit mehr als 100 Jahren ein wichtiger Bestandteil der lokalen Wirtschaft zwischen Rømø, Sylt, Amrum und Föhr, kam es gegen Ende des 19. Jahrhundert zur Überfischung. Heute finde ich in List die berühmten Zuchtaustern der Insel. Ich lege also einen kulinarischen Stopp an der blauen Austern-Bude ein und probiere.
Richtung Weststrand
Austern kauen, das Wasser aus der Muschel schlürfen. Das Meer in mir. Fehlt? Das Meer von außen, auf der Haut. Ganz eintauchen. Ein Strand. Der Weststrand. Die beiden Parkplatzwächter bewundern mein Auto. „Mit der Acadiane bezahlst du nicht.“ Gut, dass ein Auto nicht erröten kann. Der eine Wächter hatte selbst mal drei von der Sorte und schwelgt in Erinnerungen. Wir fachsimpeln.
Ich stecke das Kleingeld wieder ein, bedanke mich und stelle das Autowunder ab. Der Weststrand wirkt fast verlassen in der Nachsaison, die bewachte Badestelle ist eingegrenzt, kaum einer im Wasser. Aber dieses Türkisgrün, das hilft über mangelnde Grade hinweg. So glasklar das Wasser, so leuchtend hell und einladend, wenn man eher das Watt und den Schlick gewohnt ist.
Im Flow
Hier zeigt das Meer seine volle Kraft, es zieht und drängt. Vielleicht hat Volckmann es vor 100 Jahren auch so gespürt, oder waren es vor allem die Dünenformationen, die ihn begeisterten? „Ein Seitenstück zu Hörnum sind die nördlich von Kampen und dem Rothenkliff sich hinziehenden, teilweise sehr grotesken Dünenketten, die in Listland ihre grösste Breitenausdehnung und beim Dorfe List die erhabenste Schönheit erreichen.“
Alles ändert sich. Vielleicht ist das auf Sylt spürbarer, vielleicht ist genau hier das Großartige der Insel zu finden. Nicht nur die Stürme verändern das Inselbild, auch der Dünensand wandert weiter. Die Sylter Wanderdünen stehen schon seit 1923 unter Naturschutz. Ich kann sie von weitem sehen, aus dem Auto.
Nur ein Katzensprung mit der Fähre und ich stehe wieder am Strand von Rømø, sehe dem Schiff zu, wie es zurück aufs Meer zieht. Rømø ist leiser als Sylt. Es ist gar nicht nötig, die Welt mit Drohnen zu betrachten, denke ich. Wolken spiegeln sich in den Pfützen des Wattenmeers. Die Schönheit liegt direkt vor uns. In jedem einzelnen Sandkorn, das sich vielleicht morgen schon auf die Reise begibt.
Text und Fotos: Elke Weiler
Ich habe das Buch „Die Nordseebäder Schleswig-Holsteins“ sowie die historischen Postkarten beim Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher gefunden und war damit bereits auf Helgoland unterwegs.
Eine absolut grandiose Idee, liebe Elke. Die historischen Reiseführer sind hübsch und verbinden den Leser auf eine ganz andere Art und Weise mit dem Reiseziel. Sie bringen Geschichten und Veränderungen ins Bewusstsein, die einem anders vielleicht verborgen geblieben wären.
Danke fürs mitnehmen und die schönen Fotos. Ich mag so etwas ja sehr. Ich verfolge seit Jahren auf BBC2 „Great British/Continental/American Railway Journeys“ in denen Michael Portillo mit historischen Reiseführern „my Bradshaw tells me…“ on tour ist.
LG Sabine
Danke, liebe Sabine! Mir hat dieser Perspektivwechsel großen Spaß gemacht, meinen Horizont erweitert, und ich würde es jederzeit wieder tun. Am besten dort, wo ich mich schon ein wenig auskenne, um die Dinge besser einordnen zu können. Die BBC-Serie kenne ich nicht, läuft sie noch? Liebe Grüße nach Holland und noch einen schönen Sonntag! Elke
Danke Elke… ich bereite mich gerade auf eine Syltreise vor… war dort schon als kleines Kind und junge Frau … jetzt bereits seit 14 Jahren nicht mehr dort. Werde gleich mal nachsehen, ob ich noch einen Reiseführer aus den 60er Jahren von meinen Eltern finde… ich werde dann in meinem Blog darüber berichten… Beste Grüße aus Berlin…
Danke, liebe Ilse! Ein Reiseführer aus den 60ern, das wäre eine schicke Sache! Ich bin gespannt! Wünsche dir eine tolle Reise!