An der Algarve
Vom Balkon meines Zimmers höre ich das Rauschen der Brandung, schaue hinab in die Bucht. Ein paar Menschen, die sich winzig wie Ameisen auf rötlichem Sand bewegen. Nur ein Pool und die Steilküste liegen zwischen mir und dem Atlantik, hier in Albufeira. Nachts schlafe ich mit dem ewigen Rauschen ein, morgens wache ich damit auf. Nimmermüde überschlagen sich die Wellen am Strand.
Das ist immer schon so gewesen. Zuletzt war ich vor 30 Jahren mit meinen Eltern an der Algarve. Ich schaue auf das unscharfe, vergilbte Bild im Handy, das meine Mutter für mich abfotografiert hat. Ein Mädchen mit Rock, dreizehn Jahre alt, steht in einer Gasse. Fremd ist sie mir, so jung. Der wadenlange Rock, die Karobluse, der Geldbeutel um den Hals.

Wie viel von der Harmlosigkeit dieses Teenagers steckt heute noch in mir? Meine Erinnerungen an jenen Urlaub erscheinen lücken-, ja, bruchstückhaft. Wie Krümel auf dem Boden nach dem Verzehr eines Kekses. Kann ich überhaupt beurteilen, ob sich die Algarve verändert hat? Und werde ich diese Gasse wiederfinden?
Eine Gischt wie Samt
Wir haben damals in Lagos (sprich: lagosch) gewohnt, in einem Apartment. Wenn die Wellen am Strand zu hoch waren, hatten wir uns in einen coolen Mini gequetscht und sind auf Entdeckungstour gegangen – bis zum südwestlichsten Zipfel Europas, dem Cabo de São Vicente. Dann sind da noch wage Bilder einer Bootstour in meinem Kopf. An jene Bucht, die nur mit dem Boot erreichbar war. Der Duft der Sardinen vom Grill.
Ich laufe hinunter, unzählige Treppenstufen, Muskelkater vorprogrammiert. Auf der scheinbar endlos langen Praia da Falésia spazieren Einheimische wie Gäste, Baden scheint unmöglich wegen der Brandung. Kinder spielen im Sand, und die Strandbar ist auch Ende Oktober noch gut besucht.







Wie gemalt, der gestreifte Sandstein. Weiß, gelb, rot die Klippen. Alles überstrichen vom Gold der Nachmittagssonne. An so viel Schönheit kann ich mich nicht erinnern. Vergessen die Hotelzone des Ortes, die Banalität der Bauten. Vergessen der Herbst. Jetzt ist da nur noch das Meer, das nach dem Strand leckt. Bäume wie in die zerklüftete Landschaft gesteckte Hütchen, surreal. Die Gischt zu meinen Füßen, Samt.
Unterwegs mit „Klein-Boxer“
Nichts kommt mir bekannt vor, und je länger ich laufe, desto klarer sehe ich mein Ziel vor Augen: Lagos. Nur dort kann ich es noch einmal versuchen, Erinnerungen zu wecken. Was behält man wirklich? Von einem Familienurlaub auf den Kanaren ist mir ein Boxer aus der Nachbarschaft in Erinnerung geblieben. Ich war recht jung und im Tierschutz aktiv: Sämtliche Streuner wurden heimlich mit Essensresten versorgt. Der Boxer von gegenüber hatte Familie.
Von einem meiner ersten Urlaube mit meinen Eltern an der Costa Brava ist mir das Klettern am frühen Morgen mit meinem Vater die Burg hinauf im Kopf geblieben, wie ein kleiner, im Super-8-Format gedrehter Film. Die Burg von Tossa de Mar. Natürlich war ich als Kind schon gerne am Strand, doch täglich zwischen Hotel und Beach zu pendeln, fand ich immer langweiliger, je älter ich wurde.

An der Algarve hingegen sind wir die Küste mit „Klein-Boxer“ entlang gedüst, wie ich den Mini getauft hatte. Unser Lieblingsstrand, die Praia Dona Ana, gilt als schönster Abschnitt der Landzunge Ponta da Piedade. Ganz oben stehe ich am 1. November und blicke über die Steilküste und diese ganze Felsfantasie.
Das andere Lagos
Zwar herrscht Betrieb auf den ungesicherten, schmalen Wegen nahe des Abgrunds, doch die Ponta ist jede Minute wert, die man hier oben verbringt. Ein Spektakel, wie die Wellen gegen die Felsen klatschen. Der wilde Atlantik. Der Urlaub mit meinen Eltern, das war ausnahmsweise nicht der übliche Strandurlaub. Den Wellen sei Dank, haben wir einiges entdeckt. Die Küste. Das Land der Orangen. Die kleinen Dörfer.



Bevor wir in der Altstadt von Lagos landen, frage ich ein paar Leute nach dem vermutlichen Ort meines Fotos. Jeder will helfen. Es muss die Kirche des Heiligen Antonius sein, stellt sich schnell heraus. Nur die richtige Perspektive müsste ich noch finden. Plötzlich stehe ich genau an der Stelle, doch alles ist anders heute. Ebenso geschäftiger wie aufgeräumter, vor allem grüner. Wie aus dem Ei gepellt.
Es wäre übertrieben zu sagen, ich würde auch nur einen einzigen Winkel wiedererkennen. Eine Postkarte muss ich kaufen, für die Mama. Die junge Frau hinter der Kasse spricht sämtliche Sprachen und wirbelt schon die Vokabel durcheinander. Nur Portugiesisch würde sie im Laden nie reden, sie lacht. Und ich weiß, ich habe Lagos früher gemocht.





Fische in Silves
Heute mag ich Silves. Ein Ort im Hinterland, im Gebiet der Zitrusfrüchte. Die Stadt mit der Maurenburg. Als Kind hatte ich ja ein Faible für Burgen, siehe Tossa. Da wäre mir Silves gewiss im Gedächtnis geblieben. Erst 30 Jahre später lerne ich den Ort am Oberlauf des Rio Arade kennen.
So angenehm ruhig wirkt das Städtchen, geradezu verschlafen. Während der Mauren erlebte es eine regelrechte Blütezeit, auch bedingt durch die Handelsanbindung via Portimão über den heute fast versandeten Rio Arade. Allein der Garten, selbst wenn er nur eine geringe Schnittmenge mit dem Original haben sollte, lässt etwas vom Reichtum der Zeit erahnen. Von der Kultiviertheit seiner Erbauer im 11. Jahrhundert.



Die warme Farbe nimmt ihr ein gutes Stück vom Verteidigungscharakter: Das Castelo wurde aus Lehm und vor allem aus rotem Sandstein, dem Grés de Silves, erschaffen. Hier oben zu stehen und bei einer leichten Brise in die Orangengärten zu schauen, während der Sommer der Algarve eine Zugabe schenkt, das ist … Glück.
Ich laufe durch die Gassen, die sich um pastellfarbene Häuser winden, spüre den Muskelkater, es geht wieder bergab. Ich sehe Fische und verliere den Weg. Die Galeristin selbst hat die Bilder geschaffen, die mir gefallen. Seit 20 Jahren lebt Florbela Moreira mit ihrem Mann in Silves. Eigentlich ist sie Restauratorin von Beruf, eigentlich stammt sie aus dem Kongo.

„Ich hatte schon ein Leben“, sagt sie. Und ihre Kunst spricht auch davon, dieser Mix aus Malerei und Collage, die Farbigkeit, der Dialog zwischen Abstraktion und Figürlichkeit, die rhythmische Struktur. Leider habe ich nicht viel Zeit, doch ich wähle einen der Fische aus. Ein guter Grund wiederzukommen, denn der Fisch der Algarve braucht Gesellschaft.
Und dieses Mal wird es keine 30 Jahre dauern.





Text und Fotos: Elke Weiler
Mit Dank an Turismo do Algarve, die diese Reise unterstützt haben.
Noch mehr Algarve? Was die Kollegen bislang gedichtet haben:
Ralf von Boarding Completed verliert sich meisterhaft in „Tagträumen von einer vergessenen Insel“, der Ilha da Culatra.
Britta vom Looping-Magazin hat versucht, dem Leuchtturmwächter von Farol ein paar Worte zu entlocken.
Schön. Dennoch werde ich versuchen Dich davon zu überzeugen, dass die Tour durch die Inselwelt auch einen Tag wert ist…
Alles schon in der Planung, lieber Ralf! :-)
Was für eine schöne Geschichte, Elke <3
Danke, liebe Conny! :-)
Wie schön, genau so ging es mir auch, als ich nach 25 Jahren wieder in Portugal war. Ein Traumziel. Und hervorragendes Essen. LG Cornelia
Danke, liebe Cornelia! Ja, das Essen! Ein Grund, dorthin zu ziehen!
Fantastische BESCHREIBUNG UND TOLLE FOTOS.
Vielen Dank und herzliche GRÜßE
Fam.Mueller
Liebe Elke,
erstmal vielen Dank für die tollen Tipps in deinem Artikel. Deine Webseite ist sehr schön aufgebaut und es macht viel Spaß sie zu besuchen.
Wir lieben die Algarve und geben gerne deine Ideen an unsere Gäste.
Herzliche Grüße aus Lagos
Familie Mueller