Die Eisfischer

Finnland

Im finnischen Seengebiet fühlen sich Wintertage auch nach Winter an. Alles ist von einer ausreichenden Schicht Schnee bedeckt, und Jenni meint, so sei es immer. Wahre Massen an Schnee sind selten. Sie lebt mit ihrem Mann Pasi, den Kindern und vier Australian Terriern etwa 20 Kilometer von Kangasniemi entfernt – mitten in der Natur. Selten sei es hier so kalt, dass man draußen nichts unternehmen könne. 10, 15 Grad minus, das schon, aber keine arktische Kälte.

Am späten Abend erreiche ich mein Mökki am Soukkio-See, der nicht wirklich sichtbar, nur an den Umrissen als weiße, ebene Fläche auszumachen ist. Wo ich im vorletzten Sommer gebadet habe, kann ich nun auf der harten Oberfläche spazierengehen. Einmal pudern, bitte! Et voilà, am nächsten Morgen hat uns der Himmel eine zehn Zentimeter dicke Schicht jungfräulichen Schnees beschert.

Immer noch schneit es, als ich aufbreche, um Michael, den schottischen Fliegenfischer, und Jan, den finnischen Eisfischer, zu treffen. Wir müssen die Löcher kontrollieren, die Jan gestern vorbereitet hat. Er hat ein Netz auf dem Soukkio-See ausgelegt, das sich über zwei Löcher unter der etwa einen halben Meter dicken Eisdecke des Sees entlang zieht, sowie diverse Köder in einzelne Löcher.

Eisklumpen an der Leine

Mit einem elektrischen Bohrer, der wie ein überdimensionierter Korkenzieher wirkt, kann Jan sich in Sekundenschnelle durch die Eisdecke fräsen. Und so legt er neue Löcher an, damit wir Köder fischen, kleine Barsche. „Viele Leute mögen sie nicht, aber auch diese Fische schmecken sehr gut. Man muss nur wissen, wie man sie zubereitet“, erzählt der Eisfischer, der natürlich auch im Sommer angelt.

Ich sitze auf einem niedrigen Campingstuhl, leicht über die Angel gebeugt, hingebungsvoll bis schläfrig. Ich denke an nichts. Nichts passiert. Schneeflocken fallen. Zeit vergeht. Bei Michael, der sich als passionierter Hobby-Fliegenfischer gut auskennt, hat natürlich längst einer angebissen. Ich frage mich immer, wie die Fische merken, dass ich keine Ahnung habe. Oder will ich im Grunde gar nicht, dass einer an den Haken geht?

Stattdessen ziehen sich winzige Eisklumpen meine Angelleine hoch, die angeblich für Anfänger leicht zu handeln sei. Während ich weiter meditiere, liefert Michael nicht ohne Stolz den zweiten Minibarsch bei Jan ab, der selber auch schon einen gefangen hat. Ich hingegen würde verhungern, müsste ich von selbst geangelten Fischen leben.

Schon im vorletzten Sommer, als ich mit einem anderen Fischer und einer kleinen Gruppe hier im Seengebiet fischen war, lief es schlecht. Wir hatten an diversen Stellen unser Glück versucht und angelten nicht einen Fisch in der erlaubten Größe. Dabei gibt es laut Aussagen von Experten genug Zander, Hechte, Barsche, Brassen.

Würstchen auf dem Grill

Man muss eben immer wissen wann und wo. Auch äußere Faktoren spielen eine Rolle, die Tageszeit, der Wind, der Luftdruck, die Strömung. Aber selbst einem erfahrenen Fischer wie Jan gelingt es nicht immer, etwas zu fangen. Und dann erzählen die Männer etwas Seltsames: Dass sie den geangelten Fisch desöfteren zurückschicken ins Wasser, wo er dann munter weiterschwimmt.

Typisches Mahl der Eisfischer

Natürlich ging ich bislang davon aus, dass man angelt um zu essen. Aber da muss mehr dahinter stecken. Mittags versammeln wir uns in einer Grillhütte, sitzen gemütlich um das brutzelnde Feuer und warten auf die Würstchen, die aus einer lokalen Produktion stammen. Mit Chili. Dazu trinken wir Kaffee und Tee, reden über Fische, Hunde, Kinder und Schneeschippen. Auch Margaret, Michaels Frau ist mit von der Partie.

Michael bringt meine fehlende Ausbeute beim Eisnageln noch einmal zur Sprache. Ich frage Jan nach dem weiblichen Anteil an finnischen Fischern, und wir lachen. Der weibliche Anteil ist quasi nicht-existent. Hingegen scheint es in Schottland sehr wohl weibliche Fliegenfischer zu geben, sogar sportlich-professionelle.

Michael schwört auf den entspannenden Effekt des Fischens: „Ich vergesse den ganzen Stress von der Arbeit, eigentlich alles. Es zählt nur noch der Moment.“ Der moderne Mensch braucht dieses Abschalten, Energie tanken und eine wiedergewonnene Beziehung der Natur. Ich hingegen schwöre auf traditionelles finnisches Tretschlittenfahren. Magie, die auf Finnisch potkukelkka heißt.

Das Glück hat zwei Kufen

Einst benutzten auch die Eisfischer den Tretschlitten, um sich auf dem See flott von Loch zu Loch zu bewegen. Glücklicherweise hat ein Traktor die „Hauptstraße“ auf dem Soukkio wieder freigeschaufelt, so dass ich nach dem Mittagessen darüber düsen kann, immer schneller, immer weiter weg. Während der Rest der Truppe markierte Eislöcher nach einem potentiellem Fang absucht. Ein Schweizer Käse, dieser See.

Der Potkukelkka – made in Finland

Mehr oder weniger elegant über den See gleitend muss ich feststellen, dass ich zwar Rechthänderin, aber Linkstreterin bin. Gebe ich mit rechts „Gas“, drifte ich nach links ab. Ich versuche mich weniger abzustützen, und siehe da, jetzt klappt auch das abwechselnde Treten. Im Prinzip ist der Schlitten wie ein Vintage-Stuhl aus Birkenholz auf dünnen Skiern aus Federstahl gebaut. Ebenso genial wie elegant.

Es schneit immer stärker, und auf dem Rückweg peitschen mir die vom Wind getriebenen Schneeflocken ins Gesicht. Die Anstrengung treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Warum musste ich auch so weit fahren? Das Verfließen von See und Himmel im unendlichen Weiß hatte mich im Griff, wie ein Sog, wie das Nirvana. Verloren im finnischen Winter. Was für ein Moment. Was für eine Veränderung im Vergleich zur Sommerlandschaft.

Hecht vor der Hütte

Wenn sie sich Wege auf den Seen freischaufeln und das Eis als Straße nutzen, können die Finnen im Winter viele Wegkilometer sparen, hatte Jan erklärt. Er ist mit einem Motorschlitten unterwegs, dem ein schön geschwungenes Kufenfahrzeug anhängt. Eigentlich werde traditionell ein Pferd davor gespannt, das sei auch hin und wieder auf dem See zu sehen.

Ich fliege über den See, nur mein Schlitten, die Schneeflocken und ich.

Als ich fast wieder auf der Höhe meines Mökkis gelandet bin, sehe ich sie winken. Sie haben tatsächlich etwas gefangen, etwas sehr Großes. Zu Fuß laufe ich durch den höheren Schnee bis zur Gruppe. Ein Hecht! „Was für eine Schönheit vor deiner Hütte“, meint Jan lachend. Wir bewundern den Fisch nicht nur ob seiner Größe, er sieht einfach fantastisch aus. Die Augen lebhaft und groß. Jan lässt ihn wieder zu Wasser, wartet fast väterlich, bis der Hecht sich wieder zurechtfindet.

Jan und der Hecht

Dann lässt er los. „Im See ist er besser aufgehoben.“ Angeln, so scheint es mir, ist auch eine Art, einen Blick in die Welt unter Wasser zu werfen. Vor allem, wenn das Wasser so unnahbar ist, dort unter dem dicken Eis, das sogar Traktoren trägt. Diese Wandlung. Pasi erzählt: „An Weihnachten konnten wir vorletztes Jahr noch mit den Booten über den See fahren, zwei Wochen später schon mit den Autos.“

Jan fügt hinzu, dass die Eisdecke mindestens 15 Zentimeter dick sein muss, damit sie einen Wagen trägt. Für einen Menschen hingegen reichen fünf Zentimeter. Sind die Finnen sich nicht sicher, ob es reicht, machen sie Probebohrungen. Doch aufgrund von Strömungen ist die Schicht unterschiedlich dick. Dabei kann es lebenswichtig sein, diese Stellen zu kennen.

Doch manchmal seien gerade die Experten leichtsinnig, das hätte schon einige Fischer das Leben gekostet, so Jan. Er hat sich leicht am Finger verletzt, als er den Hecht aus dem Netz befreit hat. Rotes Blut im weißen Schnee. Das Fischerleben ist kein leichtes. Doch selten habe ich so ausbalancierte Menschen wie Fischerleute getroffen.

Vorboten des Frühlings

Irgendwo am See ist Leben, Vogelrufe. Ich erinnere mich an die Schwäne im Sommer, doch laut Jan verweilen sie im Süden. Vielleicht auch bei uns an der Nordseeküste, denke ich. Ich erinnere mich an den Nebel am frühen Morgen im August, seltsame Geräusche auf dem See, die ich nicht zuordnen konnte. Im Winter ist da nur Stille, bis auf die gelegentlichen Rufe der Krähen. Narrt mich die Natur, oder erschallen doch schon die Rufe des Prachttauchers? Und morgens die ersten Singvögel, Vorboten des Frühlings, der erst im April kommt.

Später gehe ich noch einmal aus dem Mökki, es ist fast dunkel. Blau die eisige Nacht. Ich stapfe durch den hohen Schnee, über den See, der nicht da ist. Der nur manchmal seine Geheimnisse ausplaudert, seine Existenz preisgibt. Der Schnee schluckt jedes Geräusch, nur das Stapfen meiner Schritte ist zu hören. Schuhe, die sofort im Schnee versinken.

„Manchmal spricht der See zu uns“, hatte Jenni gesagt. Wie ein sattes dunkles Geräusch aus der Tiefe, eine behäbige Bewegung der Eisdecke. Ein Ächzen, ein Seufzen unter der Winterlast. Dann erscheint es mir noch unwirklicher, das Leben im See. Wenn ich diesem Hecht nicht in die Augen geschaut hätte.

Text und Fotos: Elke Weiler

Schon bald geht es weiter mit meinen Wintererlebnissen in Finnland. Ich werde über eine Begegnung mit Huskies erzählen. Und über eine fünfköpfige Gang, die am südlichsten in Finnland lebenden Rentiere.


Mit Dank an Visit Finland und Rock & Lake Cottages, die meine finnische Winterreise unterstützt haben.

7 thoughts on “Die Eisfischer

  1. Achja, das Eigangeln ist schon eine feine Sache. Zwar war das hier in Deutschland dieses Jahr nicht möglich, aber Finnland ist immer ein gutes Angelziel für das Eisangeln. Und ein Prachtkerl wurde auch noch aus dem Wasser gezogen -genial!

    1. Danke, Paul! Ja, in Finnland hat Eisfischen eine lange Tradition und ist natürlich wesentlich komplexer, als ich es hier in der Kürze beschrieben habe.

  2. Vielen Dank für die wunderbare Pausenlektüre ;-)
    Ich erinnere mich noch gut an das scheinbar ewige Warten über meiner Angel beim Eisfischen in Kanada. Mir fehlte absolut die Geduld. Ich bewundere die Menschen die dort leben ungemein. Es ist eine so andere Welt.

    Ich freue mich schon darauf, bald von der Huskybegegnung zu lesen.

    Liebe Grüße,
    Franka

    1. Danke dir, liebe Franka!
      In der Tat, ich wäre fast beim Eisfischen eingeschlafen. ;-)
      Aber vielleicht könnte ich mich dran gewöhnen, wer weiß! In Kanada war es bestimmt auch klasse. Wie kalt ungefähr?
      Liebe Grüße, Elke

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