Es ist März, also Winter an der Nordsee. Alles ist in Nebel getaucht, als ich zum ersten Mal nach Helgoland übersetze. Das Meer, die Hummerbuden, die Lange Anna. Doch in einem Café lernte ich zwei sympathische Helgoländerinnen kennen, die für Aufklärung sorgen.
Das Schiff fährt mitten in das dichte graue Nichts hinein. Der einzige Farbklecks an diesem Morgen voller Nebel sind die Rettungsreifen, deren Orange gleichsam zu leuchten scheint. 10 Uhr ab Nordstrand, in zwei Stunden sollen wir in Helgoland anlaufen. Oder fahren Schiffe bei schlechter Sicht auch langsamer? Der Kapitän vertröstet uns mit der offiziellen Begrüßung bis Pellworm. Die Suppe ist schuld.
Erst mal aus dem Hafen herausfinden, dann liegt Pellworm um die Ecke, die erste Insel vor Nordstrand. Hinter dem weißen Schleier wirkt die Sonne wie ein Mond. Ich gehöre zu den Harten, die draußen sitzen. Ich und die Raucher.
Sichtweite: maximal 100 Meter. Nur Wasser und Nebel, mir gefällt das. Als wir im Pellwormer Hafen anlegen, meint der Kapitän: „Die Insel ist leer!“ Der Nebel verschlingt alles. Doch ein paar Leute steigen zu, und mit lautem Getute legen wir wieder ab.
Helgoland, verschluckt
Hinter Pellworm drehen die Motoren auf, das Wasser schießt hinter uns in die Höhe. 3500 PS, verkündet der Kapitän stolz. Und eine Sondergenehmigung fürs Wattenmeer, wo er allerdings maximal 24 Knoten fahren darf. Ich habe auf der Karte nachgeschaut: St. Peter-Ording ist der nächste Festlandspunkt zu Helgoland, Luftlinie keine 50 Kilometer. Dort haben wir zwar einen endlosen Sandstrand, jedoch keinen Hafen.
Wer also nach Helgoland will, legt meist in Büsum im Dithmarschen ab, wo der Saisonbetrieb im April wieder aufgenommen wird. Die Touren mit dem Expressschiff ab Nordstrand starten nämlich nur an wenigen Tagen im Jahr. Wir erreichen die Insel mit einer halben Stunde Verspätung. Der Kapitän gibt zu, dass er bei der trüben Sicht doch lieber die Geschwindigkeit gedrosselt hat.
Helgoland, endlich. Doch wo ist es? Verschwunden, verschluckt von dichten Nebelschwaden. Wenn man nichts sieht, ist man trotzdem da?
Wir laufen durch den Hafen, da! Die Hummerbuden! Zum Glück sind sie bunt, ich lechze geradezu nach Farbe. Um einen Aufstieg komme ich nicht herum, doch ich fahre von Unter- ins Oberland mit dem Aufzug. Mein Ziel sind die Lummenfelsen, was sonst.
Im Unter- wie Oberland wirkt Helgoland wie konserviert. Ein Zeitsprung, Jahrzehnte zurück. Einzig das Atoll Resort unten am Wasser fällt aus dem Gesamtbild, doch leider ist es seit dem letzten Herbst nicht mehr der Öffentlichkeit zugänglich. Eine Offshore-Firma macht sich dort für die nächsten zehn Jahre breit.
Gute Luft
Ich folge den Schildern zum Rundweg, immer den Felsen entlang. Die Möwen schreien, ein Mann singt: „Die Luft ist so gut.“ Ich suche mir ein Bank mit Buntsandstein-Blick und lausche den Geräuschen, die aus dem Nebel heraus hallen.
„Ist hier der Hund abgestürzt?“, fragt eine Touristin den Arbeiter im leuchtend orangen Overall. Scheinbar versteht er kein Wort. Ein älteres Paar erscheint auf der Bildfläche, der Mann blickt nach unten: „Da ist ja die Kurze Anna.“
Scheinbar ein beliebter Witz an dieser Stelle, den ich gleich mehrfach hören muss. Ich suche die echte Anna, die Lange. Das Stück Felsen, das sich solo behauptet. Ein Brandungspfeiler, fast 50 Meter hoch, eine Skulptur aus diesem rötlichen Stein und das Wahrzeichen der Insel.
Die Nebelschwaden huschen über die Insel, verschwinden überm Meer, gefolgt von weiteren. Unendlich der Nachschub. Ich mag das längsgestreifte Muster des Buntsandsteins, auch die anderen Spaziergänger sind begeistert vom Blick in die Tiefe.
Und die Lummen? Immer dem Geschrei nach. Doch das sind Möwen, die in luftigen Lofts am Fels brüten. Irgendwann komme ich vom Weg ab, weg von den Vögeln, hin zu den Galloways auf der Wiese. Sie schauen mich an, unbeweglich.
In welche Richtung erforsche ich den Nebel? Ist nicht jede Stelle gleich? Sehe ich die Lange Anna überhaupt? Ich versuche es in umgekehrter Richtung, lande jedoch vor dem Mittelland, das nach der Sprengung des Waffenlagers entstand. Damals nach dem Krieg, als fast die ganze Insel in die Luft geflogen wäre.
Überall auf dem Weg kleine Pyramiden, damit der werte Besucher sich weiterbildet, hier oben in der Natur. Alles über Piraten, Schmuggel und die wechselvolle Geschichte der Insel erfährt. In angenehmen, kleinen Häppchen.
Im Café
Im Oberland sind die Cafés, einige mit Aussicht, an normalen Tagen. Ich finde einen freien Tisch bei Krebs, einem alteingesessenen Konditor. Die schwedische Apfeltorte ist aus, doch dafür setzen sich zwei Helgoländerinnen an meinen Tisch, während ich mich mit Streusel tröste.
Die rüstigen Rentnerinnen sind besser als jede Tageszeitung, gäbe es denn eine auf der Insel. Thema Nummer 1? Schiffe! Die Damen wissen präzise, welches von wo kommt und wann es wieder fährt. Genauer als jeder gedruckte Fahrplan! Aktuelle Wettermeldungen inklusive.
Eine der beiden hatte sich nämlich bereits mit meinem Kapitän unterhalten und wusste daher, dass uns der Nebel vom Festland her begleitet hat. Die andere hingegen weiß, wo die Lummen sind, nämlich in der Nähe der Langen Anna.
Doch der Felsen selbst sei heute nebelverhüllt. Für eine weitere Lummenwanderung ist es eh zu spät, deswegen plaudere ich lieber noch mit den beiden Damen im Café. Ich soll im Mai oder Juni wiederkommen, sagen sie. Mitte Juni zirka springen die Jungtiere den Fels hinunter, da geht es rund auf Helgoland. Passiert aber bei Dunkelheit, meint die eine. Die andere hat dabei noch nie in ihrem Leben zugeguckt. Echt.
Eigentlich wollten die zwei Hübschen heute mit der Fähre zur Düne düsen, dem von einer Sturmflut im 18. Jahrhundert abgeschnittenen Teil der Insel. Dort ist der Strand, und immer noch sind Robben anzutreffen. Im Winter kommen sie in Scharen nach Helgoland, um Babys zu kriegen.
Offshore
„Im Winter kann man da vor lauter Robben kaum spazieren“, lacht die eine. Aber heute, bei diesem Wetter, lohnt sich der Katzensprung zur Düne nicht. Dann lieber ins Café, wo die beiden gut bekannt sind. Auch wenn Einkaufen auf der Insel wegen mangelnder Mehrwertsteuer ja günstiger ist, vom Kaffeetrinken kann ich das nicht behaupten. So kosten Kaffee und Kuchen mich hier fast acht Euro. Touristenpreise?
Für die Toilette muss ich in die erste Etage, Ort der legendären Disco Krebs, die seit 1960 existiert. Leider sind die Schotten dicht, das Ambiente hätte mich schon interessiert. Doch Helgoland lebt nicht nur vom Bestand. Neu sind die Offshore-Windanlagen, die man bei gutem Wetter sogar sieht, so meine neuen Bekannten. Eine Investition in die Zukunft, der Hafen wird dafür ausgebaut.
„Die Boote legen sonst erst am Abend an“, meint die Helgoländerin. Wegen das Wetters seien die Arbeiter bereits im Hafen. Helgoland will also Offshore-Serviceinsel werden, die erste ihrer Art. Leider muss ich mich auf den Rückweg machen, denn wie meine Bekannten wissen, brauche ich zwanzig Minuten bis zum Anlegeplatz. Im Aufzug bin ich die einzige, und der Fahrer fragt, ob ich mit dem Schiff gekommen bin.
„Nö, zu Fuß“, liegt mir auf der Zunge, doch ich nicke brav. Klar, dass man hier als Nicht-Insulaner sofort identifiziert wird. Immerhin 1.400 Menschen sind auf der Insel zu Hause. Man gelangt entweder mit den Schiffen oder per Flieger ab Heide, Cuxhaven und Bremerhaven nach Helgoland. Die kleine Landebahn liegt auf der Düne.
Die Robben am Strand stört’s anscheinend nicht. Einige von ihnen gehen ja sogar mit den Menschen baden, im Sommer. Die sind das alles gewohnt, denken meine Helgoländerinnen. Während ich an geöffneten Duty-Free-Shops vorbeiziehe, die meisten Hummerbuden im Hafen aber geschlossen vorfinde, werde ich den Eindruck nicht los, dass Helgoland noch halb im Winterschlaf liegt.
Wie ist es wohl, wenn der tägliche Schiffsbetrieb wieder aufgenommen wird? Platzt Helgoland dann nicht aus allen Nähten? Ich muss auf jeden Fall bei Sonnenschein wiederkommen. Denn nichts gesehen zu haben, ist fast wie nicht da gewesen zu sein. Als wir wieder im Wattenmeer einlaufen, zeigt sich endlich die Sonne. Und wir haben Glück: Seehunde vor Backbord! Da liegen sie auf der Sandbank, Kopf und Hinterflossen keck in die Höhe gestreckt. Chillen im Watt.
Text und Fotos: Elke Weiler
Mehr Helgoland? Was macht eigentlich ein Seehundjäger? Wir haben einen auf der Insel getroffen. Und so fühlt sich der Sommer auf Helgoland an.
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