Am Morgen ist die Luft noch frisch, doch der wolkenlose Himmel über dem südwestlichsten Zipfel Spaniens verspricht einen heißen Tag. Wie ein Kopf liegt die weiße Altstadt von Cádiz im Atlantik. Bis auf eine schmale Landbrücke schließt das Meer die Stadt von allen Seiten ein.
Egal, in welche Richtung man Cádiz durchquert, immer wieder landet man vor dem Blau des Ozeans, immer wieder hört man das Rauschen der Brandung, während der Wind scheinbar unaufhörlich vom Wasser her durch die Stadt fegt.
Eine Art Energie, eine Melodie liegt hörbar und fühlbar über der Stadt: Es ist der Rhythmus Südspaniens, der nur hier aus einer multikulturellen Mischung heraus entstehen konnte. Hier in Andalusien, wo byzantinische, mozarabische und jüdische Klänge auf die Klagelieder der Zigeuner trafen.
Genau hier entstand die Melodie des Leidens, der Rhythmus der Leidenschaft.
Es entstand der Flamenco. „Escuela de danza Cibayi“ steht in großen Lettern am Eingang der Tanzschule in Cádiz. „Uno y dos – tatí tatí tatám… “ Innerhalb der weißgetünchten Mauern, vor dem großen Spiegel starren alle gebannt auf die Tanzlehrerin. „Tatatám – tatí tatí tatám… “ Charo Cruz gibt den Rhythmus vor, sie ist die Chefin. Mit Power.
Denn Flamenco bedeutet vor allem eins: Energie. „Es ist ein Dreiviertel-Takt, der sich über vier Coplas erstreckt“, erklärt Charo auf Spanisch. Wobei Coplas die Strophen, die Einheiten der Choreografie sind. Heute dreht sich für uns alles um die Sevillanas, die folkloristische Variante des Flamenco.
Gut geeignet für Einsteiger, so heißt es. Und wir stellen rasch fest: Anders als beim richtigen Flamenco sind die Drehungen und Seitenwechsel genau festgelegt. Denn die Sevillanas werden mit Partner getanzt. Stehen sich Mann und Frau dabei gegenüber, kann es unter Umständen ganz schön knistern vor Spannung. Das ist in unserer Frauengruppe mit Quoten-Mann natürlich nicht der Fall. Dafür wird viel gelacht, hauptsächlich über die eigene Geschicklichkeit, Eleganz und Ausdrucksstärke.
Wenn die Andalusier zu ihren berühmten Ferias gehen, tanzen sie Tag und Nacht. Aber nur Sevillanas. Die Frauen wirbeln dabei auch mal gerne an die zehn Kilo schwere Rüschenkleider herum. Doch zum Üben in der Tanzschule reichen erst mal T-Shirt und Jeans. Etwas anderes trägt Charo in ihren Unterrichtsstunden nämlich auch nicht.
Extrem wichtig ist allerdings festes Schuhwerk. Charo steppt natürlich mit richtigen Flamenco-Schuhen. Die haben viele Vorteile beim Tanzen. Eine gewisse Absatzhöhe, die zu der stolzen Körperhaltung beiträgt, eine Ledersohle, damit es sich schnell und leicht dreht, ein paar Nägel unter dem Absatz, damit der Sound, nennen wir es mal Fuß-Percussion, auch schön knallt.
Bei den ersten Schritten der Sevillanas-Choreografie wirken alle etwas ungelenk. Charo redet, singt, korrigiert, erklärt wieder und wieder, führt die Schritte vor, bis es auch der Letzte es kapiert hat. „Uno y dos, tatí tatí tatám… “ Der Rhythmus geht ins Ohr und irgendwann ins Blut – dann sitzen die Schritte endlich.
Wenn sich der Blick von Charos Füßen löst, hat man es geschafft.
Das ist auch der richtige Zeitpunkt für das reelle Tempo. Denn die Sevillanas sind schnell, atemberaubend schnell. Sie versprühen und verbrauchen Energie, sie bringen das Blut in Wallung und den Körper zum Schwitzen.
Charo ist über 40, sie tanzt schon lange. Einer der magischen Momente in ihrem Leben war, als sie Camarón de la Isla hörte. Charo war noch keine 18, als es passierte. Wie der berühmte, bereits verstorbene Flamenco-Sänger stammt Charo aus San Fernando, einem kleinen Ort in der Nähe von Cádiz, den die Bewohner auch gerne „La Isla“ nennen.
Dort hörte sie ihn live, den großen Camarón, der so viele in seinen Bann zog. Camarón de la Isla, der den Flamenco revolutionierte. „Er war ein einfacher, schüchterner Mensch“, sagt heute sein Bruder Manuel Monge Cruz. So einfach wie Camaróns richtiger Name: José Monge Cruz. Doch mit seinem Gesang hat er die Leute tief in ihrem Inneren berührt.
Sein Grab in San Fernando ist heute eine Pilgerstätte. Jeden Tag kommt sein Bruder her, poliert die schwarze Granitarchitektur, die sich von den einfachen weißen Gräbern ringsherum nicht nur in der Farbe sondern auch durch die Monumentalität unterscheidet.
Wenn Manuel von seinem Bruder spricht, tut er das leise und ernst. Viel zu früh sei Camarón gestorben, an Lungenkrebs, mit gerade mal 42 Jahren. Die ihm gewidmete Peña Flamenca in San Fernando, ein Lokal für Freunde und Förderer des Flamenco, zeigt ein Foto vom blonden Jungen José, der mit wachen Augen in die Ferne blickt.
Es strahlt eine Intensität aus, die sich in seinem Gesang widerspiegelt. Das war es, was Charo Cruz berührt hatte, und was ihren weiteren Lebensweg bestimmt hat. Von diesem Moment an ging alles ganz schnell. Mit 18 verließ Charo das beschauliche San Fernando und hatte Glück in Sevilla: Sie wurde entdeckt.
„Das Aussehen spielt eine Rolle“, hat sie damals erfahren. Denn ihr Entdecker hat ihr das Talent angesehen. Oder besser: Das Temperament steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Ich bin kein sanfter Mensch“, weiß Charo. Nein, sie platze förmlich vor Energie. Deswegen ist Flamenco auch ein gutes Ventil für sie. „Bei allen Arten von Tanz kann ich mich entspannen – doch beim Flamenco kommt Kraft heraus!“
Es ist eine Mischung aus Konzentration, Anspannung und Austoben, das merkt jeder Neuling schon bei der strengen Sevillanas-Choregrafie, der stolzen Körperhaltung, der Koordination von Armen und Beinen, bei den zackigen Bewegungen und dem Aufstampfen. Wem die nötige Aggressivität fehlt, der hat es leider ein bisschen schwerer.
Inzwischen ist es warm geworden – Mittagszeit in Cádiz. Kika, Charos kleine Promenadenmischung, springt aus ihrem Sessel und läuft zu Charo auf die Tanzfläche. Das bedeutet: Ende der Tanzstunde! „Das macht sie immer.“ Charo lacht und empfiehlt uns ein Restaurant an der Plaza de San Antonio. Es ist klein aber fein, und die Karte birst vor typischen Gerichten der Region wie zum Beispiel der Kichererbsen-Eintopf mit Mangold.
„Als Vorspeise müsst ihr unbedingt die Tortitas con camarones probieren“, meint Charo. Kleine, flache Spezial-Tortillas, denen Babyshrimps eingebacken sind. Und wie die Legende sagt, hat die Erfinderin María Picardo sie Camarón de la Isla gewidmet, dessen Kunst sie förderte. Denn Camarón kommt von camarones, dessen Hautfarbe er angeblich hatte.
Nach dem Mittagessen laufen wir zum Torre Tavira, einem der über 120 noch erhaltenen Händlertürme von Cádiz. Der Vorteil dieser Türme: Man hat nicht nur einen prächtigen Ausblick auf die weiße Stadt, die sich wie ein abstraktes Muster aus geometrischen Formen ausbreitet, sondern sieht auch, wie das Meer die Stadt umarmt.
Es waren Händler, auch aus Syrien, Griechenland, Italien und Frankreich, die hier im 18. Jahrhundert nach Schiffen aus Lateinamerika Ausschau hielten. Je höher der Turm, desto weiter konnten sie sehen, der Rest ist Prestigesache. Cádiz entwickelte sich weiter, so wie der Flamenco, denn es wurden nicht nur Waren, sondern auch Kulturgüter ausgetauscht.
„Los cantos de ida y vuelta“, die Gesänge der Hin- und Rückfahrt prägten die Stadt am Meer.
Heute sind die Touristen, die Cádiz einen internationalen Touch geben. Wir, die wir neben den Einheimischen in den Straßencafés sitzen und Café con leche bestellen. Oder einen Fino als Aperitif zu den Tapas. Ohne Flamenco und Fino keine Fiesta, das hat man uns gleich beigebracht.
Der Fino kommt eigentlich aus Jerez de la Frontera, etwa 40 Kilometer von Cádiz entfernt im Landesinnern. Es ist der helle, zarteste Sherry, der Feine. Dunkle, muffelnde Weinkeller mit Schimmel an den Decken hüten das Geheimnis des Sherrys. Hier reift der Fino in fünf Jahren aus Palomino-Trauben heran. In einem dynamischen Prozess werden verschiedene Altersstufen gemischt – der Wein verliert sein Alter.
Wer in den großen Bodegas umherwandelt, findet sich in einem Mikrokosmos aus Fässern und Flaschen wieder. Der Stadt steht ins Gesicht geschrieben, wer den Wohlstand in Jerez de la Frontera manifestiert hat – es sind die großen Sherry-Barone. Doch Jerez gilt auch als Herz der Flamenco-Route, insbesondere das Gitarrenspiel konnte sich hier weiterentwickeln. In den Flamenco-Vierteln Santiago und San Miguel spürt man die Energie, in den Lokalen, in den Peñas, in den Tabernas und Tablaos.
Einst hießen sie Cafés cantantes, in denen Leute wie Camarón de la Isla oder Paco de Lucia auftraten, der den Sänger oftmals mit der Gitarre begleitet hat. Wer die Darstellung von Stolz und Temperament, Trauer und Wut, Erotik und Provokation, Stärke und Leidenschaft sucht, wird heute in den Tablaos fündig.
Zum Beispiel in „El Lagá de Tío Parilla“ an der palmenbestückten Plaza Becerra. Zu andalusischen Tapas gibt es Wein, Weib und Gesang, sprich: vibrierenden Flamenco-Cante mit Gitarrenbegleitung vom Eigentümer höchstpersönlich, zu dessen Klängen die Tänzerinnen ganz unterschiedliche Ausdrucksformen finden.
Die Intensität des Ausdrucks scheint mit dem Alter zuzunehmen.
Kenner, wahre Aficionados, sollten unbedingt einen Abstecher ins Centro Andaluz de Flamenco auf der Plaza de San Juan machen. Interessiert stöbern auch wir in dem schönen Palacio de Pemartín, hören und forschen. Im Dokumentationszentrum sammelt der Leiter Paco Benavent einfach alles, alte und neue Aufnahmen, Andenken aus dem Nachlass verstorbener Künstler, Bilder, Flamencokleider aus allen Epochen.
Das Centro organisiert Ausstellungen und Events. Besonders beliebt sind die Gesangs- und Gitarren-Darbietungen in den Sommermonaten: Umsonst kann im schönen Patio des Palacio zuhören, wer noch hineinpasst. Paco hat zwar mehr als 20 Jahre seines Lebens im Zentrum verbracht, doch selber singt und spielt er nicht. „Ich kann nur klatschen“, gibt er lächelnd zu. Doch schon das Klatschen ist beim Flamenco eine Kunst.
Text und Fotos: Elke Weiler
Aus der Reihe „Archivgeschichten“: Ich war 2004 mit dem Spanischen Fremdenverkehrsamt auf Pressereise in Andalusien. Damals habe ich als freie Reisejournalistin gearbeitet und natürlich noch analog fotografiert.
Charo Cruz führt ihr Atelier heute in La Muela in der Provinz Cádiz.
Mehr über Andalusien lesen? Frisch gebloggt habe ich über neue und alte Architekturen in Sevilla.
Flamenco tanzen ist einfach super und dazu gehört auch viel Temperament Ole
Ja, das stimmt wohl! :-)