Alle Tage gleich. Aufstehen, rausgehen, essen, arbeiten, Hunde-Hühner-Garten, essen, schlafen. Sonnenschein bis Hagelschauer. Ich friere, doch die Bäume werden langsam grün – bald muss Sommer sein. Ich kann es nicht erwarten, ich überfordere den April, doch das lässt ihn kalt. Heute fühlt er sich wie Winter an. Nur der Gesang der Vögel, lauter denn je.
Wie spät ist es, welcher Tag ist heute? In den beiden letzten Wochen hat mir jeweils ein Tag gefehlt. Er war einfach weg, als hätten die Wochen neuerdings sechs Tage. Habe ich das Gefühl für die Zeit verloren? Und warum fliegt sie so, wenn die Welt doch stillsteht?
Ich bin niemand, der in der Vergangenheit lebt. Auch die Zukunft ist mir meist zu abstrakt, selbst wenn ich konkrete Vorstellungen von ihr habe. Doch sieht es so aus, als wären in der überdimensionierten Gegenwart dieser Tage Vergangenheit und Zukunft präsenter als sonst. Werden wir aus der Zeit geworfen, wenn wir sie langsamer leben? Wenn wir alles um uns herum bewusster wahrnehmen und dabei merken, dass die Zeit kein Gesicht hat?
Der Duft der Kindheit
Ich schwimme in dieser Zeit. Plötzlich sehe ich einen Weg vor mir, eine grau betonierte Gasse. Häuser auf der einen Seite, Hinterhöfe, Garagen, eine Mauer auf der anderen. Eine Reihe von Büschen, in denen man sich verstecken kann, so als Kind. Die Eisdiele am Ende der Gasse. Der wundersame Geschmack von Aprikoseneis, das Krachen des Hörnchens beim Hineinbeißen, die Freundlichkeit der Italiener aus den Dolomiten.
Etwas später. Ich möchte gerne Italienisch lernen, aber das geht an der Schule nicht. Niederländisch geht auch nicht, dabei lebe ich 20 Kilometer von Holland entfernt. Die Schule ist ein neues, zweckmäßiges Gebäude, in das ich gehen muss, jeden Morgen, fünf Mal pro Woche. Wenn man den Hügel daneben hinaufklettert, gelangt man auf ein Stück unbewirtschaftetes Land, auf dem im Sommer die Kamille in Scharen blüht.
Einer Schulfreundin und mir kommt die Idee: Wir fangen an, dort oben Dinge zu pflanzen. Nennt man heute: Guerilla Gardening. Wir überhören die Pausenklingel, kehren mit verkrusteten Schuhen und irgendeiner abstrusen Entschuldigung zurück in den Unterricht. Waren wir brav! Waren wir gelangweilt, genervt in der Schule. Nein, nicht immer.
Später habe ich mal Italienisch-Unterricht an einer VHS gegeben, unter den Schülern ein Montessori-Schullehrer. Er erzählte, sie bauten ein Boot, das sie auf einer Messe präsentieren würden. War ich neidisch! Ich lasse die Italienisch-Schüler reden, reden, reden. Kein Aufzeigen, kein Sich-in-den-Vordergrund-drängen, keine Noten. Alle sind gleich, das kann ich mir leisten. Es ist ja nur Schule light. Kein Druck, kein Wir-bereiten-euch-auf-das-harte-Reallife-vor. Es geht nur um Italienisch. Und alle lieben es.
Einer der schönsten Momente meiner eigenen Schulzeit, das war die Klassenarbeit im Deutschunterricht, als wir eine Geschichte weiterspinnen durften. Endlich frei schwimmen, der Fantasie ihren Lauf lassen. Einem unbekannten Weg folgen. Die ganzen Möglichkeiten, unendlich viele. Danach hatte ich nie wieder eine Eins in Deutsch, danach wurde nur mehr analysiert, zersetzt und wieder gekittet. Die Lehrer sahen meinen Schwerpunkt ohnehin im naturwissenschaftlichen Bereich.
Die Konventionen
Sie behaupteten: Die Schule sei wie eine Käseglocke, und später… na, ihr werdet schon sehen! Ich empfand es genau umgekehrt. Erst ab dem Studium wurde ich glücklich. Erst, als ich mich von all dem löste, was auf die Kindheit und Jugend im mittelstädtischen Milieu gedrückt hatte. Und erst als ich in Italien lebte, habe ich lange zu schwimmen gelernt. Mich kennengelernt. Mir zu vertrauen gelernt.
Ich liebe immer noch Aprikoseneis. Italien ist ein Teil von mir, ein wichtiger, auch wenn mein Blick jetzt nach Norden gerichtet ist. Wenn Sommer ist, schwimme ich fast jeden Tag in der Nordsee. Ich mag Literatur, die sich von Konventionen frei macht. „Ihr solltet kein Buch schreiben, in dem es um Selbstbespiegelung geht“, habe ich mal auf einem Seminar gehört.
Das war vor den Zeiten der Blogs und vor dem Erfolg von Karl Owe Knausgård, der keine Story braucht, um brilliant zu erzählen. Gerade faszinieren mich Bücher, die mit der herkömmlichen Form brechen. So beginnt Ocean Vuong mitten im Buch zu dichten und macht einen Tiefpunkt im Leben quasi physisch durch den Bruch im Prosafluss sichtbar.
Oder Tine Høeg, die in ihrem Debütroman „Neue Reisende“ auf Prosa in kurzen, wie abgehackt wirkenden Zeilen setzt. Das ist auf den beiden ersten Seiten vielleicht gewöhnungsbedürftig, doch schnell packt einen das Unmittelbare ihrer Erzählweise. Gerade die Schroffheit erzeugt Nähe.
Es gibt keine Rezepte, Inhalt und Form müssen ineinandergreifen, letztendlich geht es um Authentizität. Um Ehrlichkeit. Und dann ist da noch die Sache mit der Zeit. Es gibt diejenigen, die ihrer Zeit voraus sind. Klassisches Beispiel: Hieronymus Bosch. Während die Künstlerwelt zu Renaissance-Zeiten nach Italien schaut, entwickelt der Niederländer Bosch eine ganz eigene Ausdrucksweise, die man frühestens den Surrealisten zuordnen würde, wüsste man es nicht besser. Und doch steckt ein mittelalterlicher Kosmos im Werk des Malers.
Die Zeit schlägt uns Schnippchen. Sie hüpft vor und zurück. Vielleicht ist es nur wichtig, darin zu jonglieren, als sie und sich selbst in Hilfskonstrukte zu zwängen und in Tagen, Stunden, Minuten zu denken und leben. Manche Stunden können intensiver sein als ganze Jahre.
Dieser angehaltene Augenblick, dieser atemlose Blick auf die Welt, das Leben davor, die Welt danach, ist eben mehr als nur eine Atempause. Einmal tief Luft schöpfen, den Ballast der Vergangenheit abwerfen und eine neue Zukunft kreieren. Die Erde vor uns retten. Vielleicht können wir das.
Liebe Elke.
Deine Zeilen erinnern mich an eine wochenlange Wanderung. Mit Karte und Kompass, Zelt und Rucksack querfeldein nach Norden.
Kein Tag, keine Stunde. Nur Regen und Sonne, Helligkeit und ein wenig Nacht. Das Gefühl, durch Hunger ans Essen erinnert zu werden.
Und irgendwo auf einer Anhöhe zu sitzen, die Umgebung zu genießen und zu denken: was brauche ich mehr als das, was in diesem Rucksack steckt….
Sobald wir loslassen, sind wir frei. Und sobald wir loslassen, machen wir die Erde frei.
Es fällt schwer, Gleichgesinnte zu treffen. Und doch gibt es sie, wie wir auf unserer letzten Tour im recht armen Norden Norwegens und Schwedens erlebt haben.
Vielen Dank für Deine Zeilen.
Lieber Gruß
Kai
Lieber Kai,
das muss eine sehr schöne Wanderung gewesen sein!
Doch es gibt viele Gleichgesinnte, sehr viele. Mich wundert nur, dass es nicht noch mehr sind. Schließlich steht alles auf dem Spiel.
Danke dir und liebe Grüße!
Elke
Ja, das war es. Anstrengend und schön. Mit sehr vielen Selbstgesprächen. Ich war 12 Wochen unterwegs. Und habe diese Tour unternommen, um mit einem verlustreichen Kapitel meines Lebens abzuschließen. Vielleicht so etwas wie Einkehr. Und Demut vor dem Leben.
Dann hat es geholfen?
Erinnerungen an vergangene Zeiten…
Zeit genug für Erinnerungen ist ja da. Aber sie sind eben selektiv. :-)
Von der Adria zur Nordsee weht eine sanfte Brise und es regnet Buchstaben aus allen Wolken.
In jungen Jahren bin ich gerne gegen den Strom geschwommen, beinahe wär ich ertrunken.
Mit der Zeit habe ich gelernt mich vom Wasser treiben zu lassen und die Dinge aus der Vogelperspektive zu betrachten.
Heute fühle ich mich von Wellen getragen, die mich sanft ans Ufer spülen.
Dann sitze ich voller Dankbarkeit im warmen Sand und versinke in einer berauschenden Melancholie.
Liebe Grüße
Deine Zeilen haben mich inspiriert :)
Ich merk das schon! :-) Danke und liebe Grüße von Strand zu Strand. ;-)
Schön geschrieben.
Danke!