Choucroute de la mer, das klingt zu interessant, um es nicht zu probieren: Sauerkraut des Meeres? Ich sitze in Granville, Rue du Port, wo sich ein Fischrestaurant an das nächste reiht. Alle mit Blick in den Hafen, der nur noch wenige Segel- und Fischerboote beherbergt. Die meisten sind ausgefahren, das Leben in der Bucht des Mont-Saint-Michel wird von den Gezeiten bestimmt.
Hier herrschen die höchsten Unterschiede zwischen Ebbe und Flut in Europa: Mehr als 14 Metern kann der Tidenhub je nach Konstellation der Gestirne betragen. Mein Choucroute erreicht mich mit reichlich Fisch und zwei Garnelen ausgestattet, das Kraut darunter muss ich suchen. Es ist weder sauer, noch aus Weißkohl gemacht. La choucroute rouge, très bonne!
Und dann kommt noch etwas Rotes um die Ecke gedüst: ein flotter 2CV. Meine Ente für die nächsten Tage. Der ganze Hafen scheint sich darin zu spiegeln, so frisch gewienert wirkt der Wagen in der Sonne. Über uns ragt die Altstadt von Granville in die Höhe, ein Dorf in der Stadt mit Gassen, Winkeln, kleinen Plätzen.
Mit Einwohnern, die dich manchmal neugierig ansprechen. So wie die ältere Dame, deren Haustür offen steht. Während der Fernseher im Innern läuft, habe ich Mühe den Akzent der Dame zu dechiffrieren. Doch Marlene, die mich durch Granville begleitet, versteht alles. Kein Wunder, stammt sie doch aus der Stadt. „Granville ist authentisch geblieben“, meint die junge Frau.
„Es gibt immer noch viele Fischer, die starken Gezeiten, die Kraft der Natur, die dich als Mensch demütig werden lässt.“ Und dann das Grau, alle Farben Grau. Es hatte schon einen berühmten Sohn der Stadt, Christian Dior, inspiriert. Nicht immer ist es so sonnig wie heute. Die Grautöne gehören zur Normandie, auch sie können das Meer zum Leuchten bringen. Wenn sich die Wolken im Wasser spiegeln.
Die alten Häuser der Oberstadt sind Grau in Grau gestaltet, auch der Stein der nahen Chausey-Inseln wurde hier verbaut, der Granit. Doch daneben ist Farbe, genügend Farbe. Das Blau des Meeres, des Himmels, der Fensterrahmen. Das Grün der Fischernetze und das Rot meiner Ente. Ich fahre hinauf zum Leuchtturm, sehe die Segler zu den Inseln ziehen. Atme die Freiheit ein.
Der Weg ist das Ziel
Nur meinen Koffer muss ich noch aus dem Hotel in der Unterstadt abholen. Als ich aussteigen will, bewundert eine Horde gut erzogener Kleinkinder das Auto: „Que belle voiture!“ Das Rot fällt auf, nicht nur die Form des Wagens. Früher sagten wir, bei roten Enten musst du küssen. Ich beschließe, dieses besondere Exemplar „la vie en rouge“ zu nennen.
Ich lade alles ein, nehme hinter dem enormen Lenkrad Platz, das so typisch für Oldtimer ist. Und ich starte meinen 2CV mit dem Gefühl, nie etwas anderes getan zu haben, als in Frankreich Ente zu fahren. Mein Weg könnte kaum spektakulärer sein, denn ich will die Bucht entlang düsen, immer näher heran an den Mont-Saint-Michel.
Von Granville aus ist der Klosterberg noch nicht auszumachen, wohl aber auf dem Felsvorsprung der Cabane Vauban bei Carolles. Es handelt sich um eine von drei Steinhütten, die im 17. Jahrhundert zu Verteidigungszwecken errichtet wurde. Heute summt und brummt es im dunklen Innern, fast hat sich die Natur das Terrain zurückerobert.
Stundenlang könnte ich auf der Bank schräg hinter der Cabane in der Sonne sitzen, Temperaturen um die 20 Grad im Oktober und den Blick auf die Bucht genießend. Aber ich möchte noch näher heran an den magischen Berg im Watt. Auf der Straße, die die Felsen von Champeaux hinab führt, kommen mir Ströme von Muschelfischern entgegen.
Man trifft sich vor der Springflut
Es hängt mit der grande marée zusammen: Denn für den 18. Oktober ist eine Springflut angekündigt, und es hat Tradition in der Normandie, sich auf dem frei gewordenen Meeresboden vor oder nach der Flut zu treffen und nach Wellhornschnecken, Strandschnecken, Venusmuscheln, Herzmuscheln und wilden Austern zu suchen.
Viele Senioren sind unter den erfolgreichen und teilweise gut gebräunten Grüppchen, die den Berg langsam wieder hinaufsteigen. Aber auch ein paar Berufsfischer. Einer von ihnen sieht, dass ich weder die passende Ausrüstung, noch Plastikbehälter voller Muscheln mit mir führe. Er blickt auf die Kamera und will wissen, ob ich gute Fotos gemacht habe.
Nur mit Wattführer
Nein, so richtig habe ich noch nicht gefunden, was ich brauche. Am Bec d’Andaine bei Genêts versuche ich erneut mein Glück. Flache Dünen ziehen sich bis zum Watt, hier starten geführte Wanderungen zum Mont-Saint-Michel. Aber nicht jetzt. Ich bin fast allein hier, stapfe durch den Sand, bis es nicht mehr geht, bis ich nur noch mit Gummistiefeln weiter käme.
Warnungen über Warnungen: Im Watt der Bucht soll es Treibsand und Wasserlöcher geben, plötzlich auftretender Nebel oder Gewitter kann ebenso gefährlich werden, wie von der schnell vorpreschenden ersten Welle der Flut, der Mascaret, eingeschlossen zu werden. Die sieben Kilometer vom Bec d’Andaine bis zum Mont-Saint-Michel sollte man nur in Begleitung eines erfahrenen Wattführers zurücklegen.
Doch an diesem Nachmittag ist niemand unterwegs. Was für eine Ruhe, nur das Geschrei der Wattvögel ist zu hören. Leider hat sich der Himmel zugezogen, und erste Tropfen prasseln auf den Strandhafer. Einmal noch will ich es versuchen, und zwar beim Aussichtspunkt Groin du Sud in Vains-Saint-Léonard.
Schön wie Polarlichter
Ich habe Glück. In etwa einer Stunde schon wird die Sonne untergehen. Zwar sind immer noch Wolken am Horizont auszumachen, doch die Abendsonne bahnt sich ihren Weg durch ein paar Lücken und malt einen Halbkranz aus Strahlen über den Berg, eins geworden mit der Architektur auf seinem Rücken. Spotlights himmlischer Magie.
Hobby-Fotografen haben sich am Groin du Sud versammelt, sie warten auf das beste Licht, auf den einen Moment. Ein jüngerer Mann kommt mir entgegen gelaufen, wir grinsen uns an. „Man muss sich beeilen“, meint er auf Französisch. Ich nicke, eigentlich bin ich wieder auf dem Weg zum Auto, la vie en rouge.
Ein famoser Sonnenuntergang über dem Mont-Saint-Michel, das wäre so schön wie … der Tanz der Polarlichter am nordeuropäischen Himmel. Wir knattern gemächlich durch die kleinen Dörfer im Süden der Bucht und finden mein Chambre d’haute in Le Mezeray.
Nur die Schreie der Vögel
Es ist noch Zeit, noch ein letzter Versuch, ein allerletzter Aussichtspunkt: La Roche Torin in Courtils. Ich stelle la vie en rouge ab, das letzte Stück im Mündungsgebiet der Flüsse Sée und Sélune muss ich zu Fuß erkunden. Wieder scheine ich der einzige Mensch auf weiter Flur zu sein. Wieder nur die Schreie der Vögel, dann bellt ein Hund.
Wie flüssiges Gold wirkt das Licht, wie eine Pagode der Mont-Saint-Michel. Schon morgen werde ich dort oben stehen, die Welt und das Watt aus neuer Perspektive betrachten.
Text und Fotos: Elke Weiler
Mit Dank an Normandie Tourisme, Manche Tourisme und Atout France, die meine Reise unterstützt haben. Die Ente habe ich über Drivy ausleihen können.
2CV4 oder 2CV6 ? Wenn es meine ist, dann war sie schon mal vor 36 Jahren da. Kennt sich aus.
Das da ist ein 2CV6, viel spritziger als meine Acadiane. Ich habe den Wagen vor Ort ausgeliehen.
Die Normandie ist immer eine Reise wert,es ist einfach traumhaft.
Ich liebe 2CVs !! Wie schön, über Frankreich zu lesen – und Deine Fotos sind doch toll geworden !
Danke, Martina!! Und ja, 2CVs sind einfach genial!