Wo das Eis verweilt

Für die Reihe „Mein Lieblingsplatz am Meer“ verrät Jutta vom Blog „6 Grad Ost“ den für sie schönsten Ort auf Island…

„Die Steine sind schön glatt geschliffen. Nicht ganz rund, aber sie erzählen dir Geschichten. Davon, wie das Meer sie an den Strand geworfen hat, so lange, bis sie ihre Ecken und Kanten abgestoßen hatten. Manche sind klein wie Murmeln, andere groß wie eine Männerfaust.

Pebbles, schwarze Kiesel. Wenn das Meer sie umspült, glänzen sie wie Onyx. Es ist Lavagestein, das die Erde in einem Anflug von Ärger einmal ausgespuckt hat und das nun zur Bühne für ein bizarres Schauspiel wird.

Auf dem dunklen Strand am Arktischen Ozean liegen kleine und große Eisschollen wie von Riesenhand verstreut. Ungeschliffene Edelsteine an denen das Meer leckt, ganz so als wolle es ihnen zu mehr Glanz und Pracht verhelfen. Das Salzwasser nagt am Eis, zerfrisst es.

An freundlichen Tagen leistet auch die Sonne ihren Beitrag und lässt wundersame Skulpturen entstehen. Einige sind klar wie Glas, andere milchig marmoriert oder strahlend blau.

Fundstücke am Strand © Jutta Ingala, 6 Grad Ost
Fundstücke am Strand © Jutta Ingala, 6 Grad Ost

Ich versuche etwas von der Schönheit festzuhalten: Beobachte, wie der Ozean noch mehr Eis an Land schwemmt, wie sich die Wellen daran brechen und das Wasser auf seinem langsamen Rückzug schöne Muster zeichnet. Als fiele ihm der Abschied schwer.

Die Wellen sind heute nur mäßig hoch. Trotzdem halte ich respektvoll Abstand zur Wasserlinie. Schließlich ist die Natur hier launenhaft. In Island kannst du an einem einzigen Tag alle vier Jahreszeiten erleben: Wenn ein Sturm das Land ganz unvermittelt in die Knie zwingt und die Sonne arktischem Schneegestöber weichen muss. Passiert auch mitten im Sommer.

Und dann ist da das Meer, das so schön rhythmisch gegen die Küste schlägt, aber urplötzlich ausholt und den Strand gewaltig überrollt. Ganz so schlimm kommt es nicht und doch stehe ich nun knöcheltief im Wasser. Das Meer hat mich überrumpelt. Dabei hatte ich es nur ganz kurz aus den Augen gelassen. Mit nassen Füßen ist hier natürlich nicht viel anzufangen.

Nasse Füße sind inbegriffen © Jutta-Ingala, 6 Grad Ost
Nasse Füße sind inbegriffen © Jutta-Ingala, 6 Grad Ost

Aus meinen Fotos wird nichts mehr. Also packe ich zusammen und rette mich zum Wagen. Insgeheim muss ich lachen: Island, das Meer und ich – nicht unser erstes Gefecht und ganz sicher nicht unser letztes.

Dem Strand kehre ich erst einmal den Rücken zu. Ich ziehe Schuhe und Strümpfe aus, drehe die Heizung auf und lasse meine Füße trocknen. Durch die Scheibe betrachte ich die kitschig schöne Kulisse vor mir. Der totale Gegensatz zum umtriebigen Ozean.

Hier gibt es nur Tiefblau und Weiß: einen absolut stillen See, in dem sich Himmel und schneebedeckte Berge spiegeln. Es ist Islands tiefster See und vielleicht auch sein jüngster. Erst vor rund 70, 80 Jahren ist Jökulsárlón entstanden. Als Lagune am Fuß des mächtigen Vatnajökull.

Weil sich der Gletscher schon lange zurückzieht oder weil das Meerwasser, das in die Lagune dringt, an der Gletscherzunge frisst? Wer weiß das schon so genau.

Natur macht Kunst © Jutta Ingala, 6 Grad Ost
Natur macht Kunst © Jutta Ingala, 6 Grad Ost

Ich habe Jökulsárlón voll haushoher Eisberge erlebt – aber noch nie unter einem SO blauen Himmel. Heute dümpeln hier nur wenige Schollen. Bis zu drei Jahre treibt das Eis im Wasser. Schmilzt, kippt, gefriert erneut. Wechselt seine Farbe von Tiefblau zu Weiß.

Wer mag, kreuzt auf einem Boot zwischen den Eisbergen, kann mit ihnen auf Tuchfühlung gehen. Seit Dezember ist jedoch niemand mehr auf den See hinausgefahren. Zu unbeständig war das Wetter in diesem Winter. Ein Glück für mich, denn so still zeigt sich die Lagune wirklich nur selten.

Es ist Zeit, die Schuhe wieder anzuziehen. Das nächste Abenteuer ruft. Glücklicherweise hat mir jemand neue Socken besorgt. Handgestrickt aus Islandwolle.

Ein Blick zurück auf das Meer. Es ist so schön. Irgendwann möchte ich an einem Ort wie diesem leben. Meer muss für mich nicht tropisch sein. Ich habe es lieber herb, ein bisschen unberechenbar. Und nasse Füße nehme ich dafür gern einmal in Kauf.“

Text und Fotos: Jutta Ingala

7 thoughts on “Wo das Eis verweilt

  1. Oh, wie schön! Da möcht ich jetzt gern mal kurz meine Stirn dranhalten, an den Gletscher…Grüße aus dem 40 Grad warmen Sri Lanka!

  2. Jutta – du hast mich zurückgebeamt nach Island! Danke dafür. Du hast mich damit auch daran erinnert, dass mein erster Aufenthalt auf Island nur ein erster Vorgeschmack war und ich irgendwann wieder dorthin zurück möchte. Länger. Intensiver. Auch, um diese Pebbels wieder zu berühren. Wie Handschmeichler sind die, nur besser. Viel, viel besser!

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