Der Sand unter den nackten Sohlen ist noch feucht vom Regen. Wolken ziehen über die wellenförmige Wüste der Wanderdüne Råbjerg Mile, aus der kleine und größere Erhebungen wie mit Dünengras verzierte Kamelhöcker hervorlugen. Ich folge dem Meer der Spuren im Sand, so viele Besucher können nicht irren. Jemand hat eine Socke verloren. Andere haben ihre Schuhe abgestellt, um barfuß weiterzulaufen.
An diesem Morgen und zu dieser Zeit bin ich eine der ersten. Meine Schuhe sind sorgfältig abgeklopft im Rucksack gelandet. Denn wer weiß schon, ob ich auf dem Rückweg wieder hier vorbeikomme? Noch kann ich nicht sehen, wo die Düne anfängt, wo sie endet, und wo sie mich hinführt. Ich weiß nur, dass Råbjerg Mile jedes Jahr an die 15 Meter in nordöstlicher Richtung zurücklegt und irgendwann die Straße nach Skagen blockieren wird.
Der Wind hat in den Sand gemalt. Schlieren hat er hinterlassen, schwungvoll gezeichnet. Kreise, Linien, ein abstraktes Gemälde. Die Spuren im Sand sind vielfältig, nicht nur die vom Wind. Manch ein Wanderer hat einen künstlerischen Ausdruck gefunden oder einen Namen in die Weite geschrieben. Oder zwei als Zeichen der Liebe. Vor allem Herzen gibt es viele im Sand, die Liebe scheint wichtig auf Råbjerg Mile.
Auch wenn ihre sichtbaren Zeichen nicht lange vorhalten, denn dafür sorgt schon der ewige Wind vom Westen. Auf den Hügeln von Råbjerg Mile kann ich die Spitze Nordjütlands in ihrer vollen Breite erfassen. Auf der einen Seite die Ostsee, mit einem blassen Ton im Morgenlicht und einer Armada von Containerschiffen, die allesamt in die selbe Richtung gucken – gen Süden.
Am Skagerrak
Auf der anderen Seite die Nordsee, ja bis nach Norwegen kann ich an diesem Tag sehen, die Konturen von Kristiansand am Horizont ausmachen. Unendlich blau, das Meer zwischen Dänemark und Norwegen. Mein Meer, an dem ich lebe, in dem ich in diesem karibischen Sommer fast täglich baden war.
Als ich am Tag zuvor im Regen Nordjütland erreichte, ging mein erster Weg ans Meer, an den Strand von Kandestederne. Das Donnern der Wellen ist die Musik, die ich schon von weitem höre, die mich anlockt wie eine altbekannte Melodie. Die mich immer wieder in Atem hält. Mein Herz weitet. Die Nordsee kommt und geht hier nicht, sie bleibt und rauscht unaufhörlich. So wie der Sand der Düne rieselt, wenn der Wind an Fahrt aufnimmt.
Nach und nach bevölkert sich Råbjerg Mile. „Papa, hilf mir!“, schreit ein Kind. Mit seinem Geschwisterchen rollt es einen Hügel hinab. Kinder machen immer das, was Erwachsene gerne tun würden, sich aber nicht trauen, weil sie an die Konsequenzen denken. Dabei bläst der Wind den Sand sowieso überall hin, es gibt keinen Ausweg. Sand in den Ohren, auf der Stirn, in den Haaren. Sand, der zwischen den Zähnen knirscht. Das ist Normalität auf Dünen, erst recht auf Wanderdünen.
Die Dünenlandschaft, ein Gebirge aus Sand. Jauchzend rollen die Kinder hinab. Ich drehe mich, bis mir schwindelig wird. Treffe alsdann auf einen Mann, der hier scheinbar nur hochgehuscht ist, um Selfies zu machen. Jedenfalls bittet er mich, ihn mit seinem Handy zu fotografieren. Als Revanche macht er auch ein paar Bilder von mir. Und beginnt zu erzählen.
Die Entdeckung
Dass er die Fähre nach Göteborg verpasst habe. Beziehungsweise, dass sie am Vortag erst gar nicht gefahren wäre. Sein Sohn hätte ihm dann geraten, Råbjerg Mile zu besuchen, wenn er schon einen Tag in der Gegend „festsitzt“. Er habe ja keine Ahnung gehabt! Frühmorgens sei er schon am Grenen gewesen, der äußersten Spitze Jütlands. Hier prallen Nord- und Ostsee aufeinander, Skagerrak und Kattegat, mal mehr, mal weniger heftig.
Seehunde habe er getroffen! Und nun diese Wanderdüne. Er überlege bereits, hier mal Urlaub zu machen. Ob ich ihm etwas empfehlen könne? Dann macht er sich wieder auf den Weg, um die nächste Fähre nach Schweden nicht zu verpassen. Ich bleibe zwischen den Meeren. Und sehe mir zunächst Den Tilsandede Kirke, Die Versandete Kirche, ein paar Kilometer von der Wanderdüne entfernt. Das Spektakulärste ist hier ein Reh, das meinen Weg kreuzt, Husch, husch, weg ist es. Wie elegant es war!
Dann entdecke ich den Turm der einstigen Kirche mitten in den Dünen. Sie sind mit Strandhafer und Nadelbäumen bepflanzt worden, um den Sandflug der Gegend zu stoppen. Das ewige Lied vom Sand und Wind, im Norden Jütlands kennt man es in- und auswendig. Zuletzt hatte der Turm als Leuchtturm gedient, nun steht er wie ein Sinnbild des Überlebens mitten im Raum, strahlend weiß und wie aus dem Ei gepellt.
Auch in Skagen, dem Ort der Fischer, Künstler und sonnengelben Häuser, fällt mir wieder auf, wie ordentlich dieser nördlichste Ort Dänemarks doch wirkt. Wie frisch gestrichen alles, wie akkurat die Vorgärten bepflanzt und die Pflanzen beschnitten sind.
Ort der Fischer
Gearbeitet wurde immer schon im Hafen, wo die Fischkutter liegen und Schiffe in der Werft überholt werden. Wo nun auch Yachten im Wasser schaukeln. Der beste Platz, um Fisch zu essen. Kabeljau, Rotbarsch, Lachs, Hering. Oder einfach bei einem Glas Wein dem Geschehen im Hafen zusehen.
Um mehr über Skagen zu erfahren, besuche ich das „Kystmuseet“, ein kleines Open-Air-Museum mit einer Mühle, zwei alten Fischerhäusern und dem ehemaligen Seerettungsboot. Denn die Strömungen vor dem Grenen haben es in sich, und früher kam es nicht selten zu Strandungen von Schiffen. Den Fischern, die niemals von der See zurückkamen, wird eine ehemalige Lagerhalle gewidmet.
In der Mitte ein Ruderboot, wie sie es im 19. Jahrhundert benutzt haben. Und wie die Fischer zu dieser Zeit in Skagen gewohnt haben, kann ich in den schwarzgetünchten Häusern unterm Reet in Erfahrung bringen. Das größere Haus zeigt die Lebensumstände eines wohlhabenden Fischers, das kleine gehörte einem ärmeren und erfüllt auf engstem Raum alle wichtigen Funktionen.
Hier nutzte man das Wohnzimmer auch als Schlafzimmer für die Eltern und sämtliche Kinder. Einen Raum als Lager oder Gästezimmer, etwa für Gestrandete, gibt es hier nicht. Die Gemütlichkeit, aber auch die Enge der Häuser stehen im Kontrast zur Weite der Landschaft. Als wollte man sich hinein ducken und einkuscheln. Denn der nächste Herbststurm kommt bestimmt.
Badefreuden
Ein Grund mehr, die letzten Sommertage zu genießen. So fahre ich zurück nach Kandestederne an mein Meer. Heute leuchtet es türkisblau, klingt aber wie gestern, ein einziges Brausen und Tosen. Schwimmen unmöglich. Ich hüpfe und werfe mich in das prasselnde Meer, atemlos nach einer Weile, doch voller Energie. Diese Urgewalt zu spüren, den Sog, wenn das Meer ausschmatzt, vor- und zurückzieht, immer wieder.
Noch vor Sonnenuntergang stehe ich wieder auf der Wanderdüne. Abends leuchtet der Sand, und der Wind hat sein Spiel verstärkt. Vielfältig die Ausblicke und Gesichter der Düne. Die Spuren des Tages sind verweht, neue kommen hinzu. Fast verschwunden die Feuchtigkeit von gestern. Der Sand tanzt über die Kappen, die Menschen dem Sonnenuntergang entgegen.
Råbjerg Mile macht glücklich. Und immer, wenn sie weiterzieht, lässt sie etwas zurück.
Text und Fotos: Elke Weiler
Mit Dank an VisitNordjylland und VisitDenmark, die meine Recherchereise unterstützt haben.
Übernachtet habe ich im Hjorts Badehotel in Kandestederne zwischen der Wanderdüne und dem brausenden Meer. Diese Ruhe. Der Duft der Heide, vermischt mit dem der See. Nur eine Herde von Islandpferden, die in der Ferne grast. Und morgens das frischgebackene Sauerteigbrot von Mikael auf dem Frühstücksbuffet, der eigentlich Hoteldirektor im Hjorts ist und viele Pläne dafür hat.
So wollen sie ihr eigenes Gemüse anbauen, das Getreide selbst mahlen, Yoga-Kurse anbieten. Und auch im Winter öffnen, sobald das Hotel renoviert ist. Den Vintage-Charme wollen sie nach Möglichkeit erhalten. Dieses Gefühl, über den Holzboden zu gehen und den Schminktisch samt Spiegel in leichte Schwingungen zu versetzen.
Bonsoir!
Nach dem mein Montag direkt trubelig begann, ist dies hier genau die richtige Medizin, um für heute runterzukommen. Einmalig gut, merci!
Spätsommerliche Grüße
Franziska
Merci! Das freut mich sehr. Gute Erholung. :-) Liebe Grüße, Elke
Ich habe jetzt „rückwärts“ bis hier her gelesen. Es ist immer wieder ein Vergnügen, mit dir auf die Reise zu gehen.
Liebe Grüße aus einem inzwischen extrem ungemütlich gewordenen Nordjütland.
venlige hilsner, Marion
Danke dir, liebe Marion! Das freut mich sehr. Ich wollte mich auch bald mal bei dir melden, habe nur derzeit wahnsinnig viel zu tun. Bis demnächst also! Liebe Grüße, Elke
Bloß kein Stress, bitte. Ich lese mich derweil in Ruhe bei dir um. Ist schön hier und ich bin gerne ein schweigender Leser. Wir lesen uns
Die stillen Leser sind mir die liebsten! :-)
Hallo, was für ein Schreibstil ist das, den sie verwenden, bewundernswert !
Besten Dank! :-)