Ziellos laufe ich durch prall gefüllte Straßen im Zentrum von Helsinki. Vorbei an Straßenmusikanten, die „Moon River“ zum Besten geben. An jeder Ecke eine andere Melodie. Nichts kann mich aufmuntern. Ich denke an „Frühstück bei Tiffany“, an die Methode von Holly Golightly sich durch den bloßen Anblick von Luxus wohl zu fühlen.
Ich sehe die Menschen, denen es gutgeht, mehr noch sehe ich die, denen es schlecht geht. Bei mir funktioniert weder Kaufen noch Windowshopping. Nicht, dass ich etwas gegen Helsinki an Samstagen habe, nur sollte ich eigentlich gar nicht hier sein. Und dieses Gefühl macht sich immer breiter. Ich setze mich eine Weile an den Kai am Kauppatori und schaue den Möwen zu.
Sie streiten sich, kreischen nervös. Ausflugsschiffe fahren ein und aus. Ich habe Hunger, doch die Zimtschnecke zum Kaffee bekomme ich kaum hinunter. Allein die Anwesenheit des älteren Pärchen aus Helsinki, an dessen Tisch ich Platz nehmen durfte, strahlt etwas Beruhigendes aus.
Sie grüßen freundlich, plaudern hier und dort mit Bekannten. Ich verstehe zwar kein Wort, spüre jedoch das Wohlwollen in den Gesprächen. Als ich aufstehe, wünsche ich ihnen noch einen schönen Tag auf Englisch. Etwas in mir schiebt mich weiter, zurück zu Emilia. Zurück in jene Werkstatt in einem Vorort Helsinkis.
Mit dem Mechaniker habe ich mich kaum verständigen können. Wie will er mir Bescheid sagen, wenn er kein Englisch spricht? Mein Fantasie schlägt mir ein Schnippchen, mal wieder. Manchmal würde ich sie gerne abstellen, wir haben ein gespaltenes Verhältnis.
Ich halte es nicht mehr aus, nehme die nächste Metro nach Herttoniemi, und lasse den Morgen Revue passieren. Da war dieser Moment, als ich Emilia aufschloss und merkte, dass etwas nicht stimmte. Hatte sich jemand an ihrem Türschloss versucht?
Das konnte nicht sein! Die Ente stand über 30 Stunden an Deck 8 der Fähre, nicht weit von mir entfernt. Doch die Parkbereiche bleiben genau so lang für alle Passagiere verschlossen. Was mir auch ein Angestellter bestätigte, der die Autokolonne von der Fähre durch das Hafengebiet geleitete. Darüber hinaus wollte er gerne helfen.
Am Hansaterminal angekommen, bat er mich zu warten und spürte dann diese Werkstatt für mich auf. Wegen der offenen Tür möglichst nicht zu weit vom Hafen entfernt und dann auch noch samstags geöffnet. Er hat es geschafft, kiitos!
Und so bin ich mit einer Hand am Türgriff nach Herttoniemi gedüst. Habe sie festgehalten, damit die Tür in den Kurven und vom zerrenden Wind nicht weiter aufgeht. Mit Kraftaufwand. Den Arm in unnatürlicher Stellung, bis er fast gekrampft hat. Geschaltet wie gelenkt mit rechts, doch das funktioniert nicht immer. Manchmal musste ich die Tür dafür loslassen, man braucht einfach zwei Hände zum Fahren.
Etwa eine Viertelstunde später stelle ich Emilia auf einen Hinterhof und lerne einen kaukasischen Mechaniker kennen. Er sieht, was nicht funktioniert, er versteht. Doch der Rest ist ungewiss. Er kann noch nicht sagen, ob er die Tür noch am selben Tag reparieren wird oder doch erst am Montag, denn sie haben einiges zu tun.
Muss ich nach einem freien Hotelzimmer in Helsinki suchen? Oder besser noch einen Leihwagen nehmen, um meinen Reiseplan einhalten zu können, der durch meine verspätete Fährabfahrt ohnehin schon um einen Tag gekürzt ist? All das drückt mir auf den Magen, das kaputte Schloss, die Ungewissheit, das fehlende Vertrauen.
Der Mechaniker spricht kaum Englisch. Er ruft einen Freund an, doch dieser geht nicht ans Telefon. „Sleep“, vermutet er und grinst. Dank einer Übersetzungs-App auf seinem Handy kommt der Deal schließlich zustande. So sprechen wir abwechselnd in sein Telefon, und eine freundliche Damenstimme vermittelt. Allerdings versteht sie auch nicht alles. Seltsam verschachtelte Sätze sind zu vermeiden.
Schweren Herzens habe ich ihm Emilia überlassen, mitsamt Koffer und Fahrrad. Habe den Rucksack geschultert, die Metro genommen und bin hilflos durch die Stadt gestreunt. Doch an einem bestimmten Punkt habe ich das Warten nicht mehr ausgehalten und stehe gegen drei Uhr wieder vor der Werkstatt.
Bis vier würde er arbeiten, hoffentlich hatte ich es richtig verstanden? Ein Glück, der Kollege sitzt vorne an der Rezeption und führt mich in die heiligen Hallen der Firma. Er strahlt. Demonstriert die Funktionstüchtigkeit von Emilias Tür und Schloss. Alles ok! Fast hätte ich gejauchzt, wäre in die Luft gesprungen und ihm um den Hals gefallen.
Nur fünf Minuten soll ich mich gedulden, nur kurz noch ins Büro setzen. Die Minuten ziehen sich wie Kaugummi, ich möchte endlich losfahren. Da erscheint mein Retter auf der Bildfläche mitsamt Handy, mit dem er die diversen Genesungsphasen der Schließvorrichtung fotografisch dokumentiert hat. Alle Achtung!
Sein Freund am Telefon, der Englisch spricht, ist inzwischen wach und übersetzt mir noch mal alles per Telefon. Ich weiß, es ist eine Reparatur der Schließvorrichtung, eine Feder war wohl herausgesprungen. Was komisch wäre, so der Retter. Doch die schnelle Genesung kommt mir wie ein Wunder vor. Sie haben Emilia, sie haben mich gerettet. Ich bezahle, er fährt den Wagen nach draußen, steigt aus und lächelt: „Nice car.“
Alles funktioniert wieder, Emilia ist bereit für ihr erstes finnisches Abenteuer. Ohne zu murren legt sie an diesem Tag noch über 180 Kilometer bis Naantali zurück. Von dort sollen wir schon am nächsten Morgen zu den Ålandinseln starten.
Während der Fahrt prasseln immer wieder wolkenbruchartige Schauern auf uns ein, doch zum Glück sind sie kurz. Als wir in dem Küstenort ankommen, scheint die Sonne und straft alle Wolken Lügen. Die Schärenlandschaft ist in ein goldenes Licht getaucht, und ich muss dringend an die frische Luft.
Also steige ich aufs Rad um, immer den Küstenweg entlang. Nicht ohne ein gewisses Hungergefühl. Die Insel der Mumins lasse ich rechts liegen, vermutlich hat die lustige Muminwelt auf Kailo eh schon geschlossen. Ein anderer Prominenter residiert im Sommer auf einer weiteren vorgelagerten Insel: der finnische Präsident im Kulturanta-Palast.
Mein Ziel liegt in der Altstadt von Naantali, in einem der hübschen Holzhäuser am Wasser möchte ich dinieren. Meine Wahl fällt auf das Restaurant & Café „Snickari“ in einem der historischen Gebäude. Der Name klingt gut, die Speisekarte auch. Man verspricht moderne skandinavische Küche, verbunden mit lokaler Tradition. Und eigene Backwaren, das ist immer gut.
Doch was hat Tradition in Naantali?
Spa-Behandlungen, denn man entdeckte hier an der westfinnischen Küste im 18. Jahrhundert eine Heilquelle. Im 20. Jahrhundert boomte der Gesundheitstourismus. Dass der Ort hauptsächlich aus Sommerhäusern und Hotels besteht, ist mein erster Eindruck. Doch immerhin zählt Naantali über 19.000 Einwohner.
Ich ziehe für eine Nacht ins Spa-Hotel, in ein geräumiges Apartment mit Meerblick. Keine Zeit bliebt für das Spa, dafür ist der Abend zu schön. Naantali scheint in der Abendsonne zu glänzen. Zwar wirkt die Luft herbstlich frisch, zwar sind die Wege fast leer und der gemächliche Rhythmus der Nebensaison hat sich über den Ort gelegt, doch klingt der Sommer nach.
Vor allem am Strand, in den sanften Wogen der Ostsee.
Wasserbusse steuern von Naantali aus die Inseln des Turku-Archipels an, im Sommer mehrmals täglich. Ein Leben am Wasser, im Hafen schaukeln finnische, åländische und schwedische Segelboote. Naantalis Geschichte begann bereits mit dem Bau eines Klosters im 15. Jahrhundert. Ich habe den Klosterberg mit der verbliebenen Klosterkirche umkreist und bin ein Stück durch den Park flaniert, bevor ich das „Snickari“ ausmache. Ein hübsches Haus aus dem 19. Jahrhundert.
Der Name hat nichts mit Erdnussriegeln zu tun, sondern geht auf das schwedische Wort „snickare“ für Tischler zurück. In diesem Bereich von Naantali hatten sich neben den Fischern einst Handwerker angesiedelt. Überflüssig zu sagen, dass auch Fisch immer schon ein großes Thema in der Gegend war.
Das „Snickari“ versteht sein Handwerk jedenfalls. Nie in meinem Leben habe ich bessere Fish & Chips gegessen. In Bierteig gebacken die Barsch-Stücke, dazu gegrillte Zitrone und hausgemachte Aioli. Zum Nachtisch Apfelkuchen nach dem Rezept der Oma. Köstlich.
Zwischendurch erscheint eine Truppe Kostümierter, um sich im „Snickari“ einen Feierabendtrunk zu genehmigen. Doch ich erfahre, dass sie nicht aus der Muminwelt, sondern vom Abschlussfest der Sommervillen, „Venezianer“ genannt, stammen. So sehen die Kostümierten auch aus. Und ein bisschen frech sind sie.
Ich steige wieder aufs Rad. Dramatisch der Wolkenhimmel, still das Wasser, duftend der kleine Wald. Es riecht nach Meer, Erde und Kiefern. Kein Wunder, dass alle nach Naantali fahren, um den Sommer zu zelebrieren. Kein Wunder, dass sie sich Ende August gebührend vom Sommer verabschieden wollen. Ja, er gibt gerade seine Abschiedsvorstellung. Nur ungerne lasse ich ihn gehen.
Text und Fotos: Elke Weiler
Bald geht es weiter auf meinem Roadtrip mit Hindernissen: Wir starten (fast nicht) zur Fahrt durch den magischen Schärengarten Turkus und landen tatsächlich auf den Ålandinseln…
Meine Reise nach Finnland und auf die Ålandinseln wurde von Finnlines und Feelgood Erlebnisreisen unterstützt.
Oh, dein schönes Auto, die arme Emilia! Ich hoffe, sie bleibt dir noch lang erhalten!
Danke, liebe Birgit! Emilia wird gehegt und gepflegt! :-)