Im Caffè San Carlo 1828 trifft sich halb Turin zur Mittagspause. Von wegen ernsthafte Norditaliener: Ein Grüppchen frisch frisierter Damen sitzt an einem Tisch des üppig dekorierten Salons, lachend und scherzend. Schuld sind die heiße Schokolade und … der Bicerin.
Was das eigentlich ist? Eine Mischung aus Espresso und flüssiger Schokolade mit einem Schuss Sahne. Nicht zu verwechseln mit dem Marocchino, eine Art Mini-Cappuccino mit Kakaopulver. Für den Bicerin gilt: Einer ist keiner, denn es bedeutet im piemontesischen Dialekt „kleines Glas“.
Das geht beim Kuchen weiter so. Statt opulenter Stücke verputzen die Signore nach alter Sitte kleine Törtchen, von denen jedes Café seine eigenen Kreationen fabriziert. Viele davon.
Das wilde Café-Leben
Wesentlich cooler geht es am Tisch der Businessleute zu. Man trägt Sonnenbrille zum Anzug und lässt sich Kleinigkeiten vom Buffet zusammen stellen: gegrillter Treviana, Zucchini, Kartoffeln, eingelegter Käse und verschiedene Quiches.
Doch was die Schokolade angeht, da zeigt sich einfach die Grundkompetenz dieser norditalienischen Stadt. Denn schon im 17. Jahrhundert erhielt Turin eine königliche Konzession zur Kakaobohnenverarbeitung. Und dann ab die Post.
Man erfand munter Kalorienbomben wie den Bicerin sowie Ganduiotti, Alpini und Turinots. Noch heute gibt es zahlreiche Traditionshersteller und natürlich Schokolade an jeder Ecke. Wir wollen zunächst mal ein obligatorisches „kleines Glas“ heben, genug Schokolade wäre ja drin. Nur wo?
Es sind jene kleinen, historischen Cafés wie das berühmte Al Bicerin, die es uns angetan haben. Wo schon Cavour, Puccini und Nietzsche ihren Bicerin schlürften, Sahne am Bart. In diesen Kaffeehäusern trafen sich Politiker und Intellektuelle, wurden Revolutionen angezettelt oder Fußballvereine gegründet, wie Juventus im Caffè Platti.
Dergleichen haben wir heute nicht vor. Nur ein paar Schokoladenseiten der Stadt entdecken, die barocken Kirchen und Fassaden bewundern. Unter endlosen Arkaden wandeln und durch den Valentino-Park schlendern. Addio, Bicerin-Kalorien!
Allein ein Blick in den Treppenaufgang des Architekten Juvarra ist den Besuch des Palazzo Madama wert. Ich liebe das Temperament des Barock und die Komplexität der Strukturen. Und in Turin kann man sich daran nicht satt sehen.
Der Balkon der Stadt
Gegenüber vom Madama wirkt die Fassade der Hofkapelle San Lorenzo zunächst wie ein Wohnhaus. Auf Wunsch seiner herrschaftlichen Auftraggeber schuf Guarini eine Palastfassade, nur an der Kuppel des Zentralbaus ist die sakrale Funktion erkennbar. Gebogene Linien schaffen Bewegung im Innern des Oktagons. Und ich bekomme gleich eine Genickstarre, weil es so schön ist.
Wir wollen uns das alles mal von oben ansehen: Turin vor dem Panorama der Alpen. Als Balkon der Stadt bezeichnen die Turiner ihre exotisch anmutende Mole Antonelliana. Im gläsernen Fahrstuhl fahren wir aus der Mitte des Foyers, das mit seinen Betonstreben wie eine moderne Sakralarchitektur wirkt, bis zur Aussichtsplattform.
Die Mole war ursprünglich als Synagoge geplant, dient jedoch heute als Kino-Museum. Unter uns relaxen die Leute in riesigen Kinosesseln – was für ein Luxus während des Kinofilms. Hoch oben, in der Laterne, liegt uns die Stadt zu Füßen. Doch was die Alpen angeht: Sie sind verschwunden, wie ausradiert. Schuld sind die Wolken.
Wir bekommen Appetit, vergessen der Bicerin, vergessen die Schokolade. Das „Eataly“ ist ein stylisher Schlemmermarkt in der umgebauten Vermouth-Fabrik von 1908. Etwa drei Kilometer außerhalb des Zentrums liegt die rundum erneuerte Architektur in der Lingotto-Zone.
Sogar die Einkaufswagen sind hier Design, und was in die Regale oder auf die Tische der Restaurants kommt, ist ganz im Sinne der „Slow Food Bewegung“ und stammt von regionalen Erzeugern.
Der Klopf-Test
Francesco Valente steht hinterm Tresen der Schinken-Abteilung und verteilt Proben eines leicht geräucherten Schinkens. Wie viele hier kommt er aus Süditalien und lebt schon „eine sehr lange Zeit“ in der Hauptstadt des Piemonts.
In den unterirdischen Räumlichkeiten des gigantischen Naschmarktes klopft ein Kenner auf Salami-Würste, um ihre Reife zu überprüfen. Er hört, ob Luft im Innern ist.
„Der Culatello di Zibello ist der König unter den Salami“, weiß Stefano Basile, der Schinken- und Käse-Verantwortliche. Lauter Raritäten hängen in seinem Reich, die er regelmäßig rhythmisch beklopft. Wir hören… nichts. Doch der Spezialist erkennt am Klang die Qualität.
„Mani in Pasta!“ Selber kochen macht Freude, heißt es im „Eataly“. Renato Dominici und sein junger Kollege Enrico Panero sind unsere Maestri beim heutigen Kochkurs, wir sollen uns an eigener Pasta probieren. Das heißt kneten, kneten und noch mal kneten.
Ab in die Berge
„Der Teig muss die Konsistenz eines Ohrläppchens haben“, meint Renato und grinst frech. Er zeigt uns am eigenen Leib, wie wir es überprüfen. Das Ergebnis: Gang Nummer 3, königliche Tagliolini oder Tajarin, wie es auf piemontesisch heißt, mit einer herzhaften Gemüse-Fleisch-Soße. Auch die anderen Teams waren erfolgreich: Buon appetito!
Szenenwechsel. Am Wochenende gönnen sich die Turiner was und ziehen in die Berge. Wir auch. Und zwar in die Gegend um Cuneo, den Südzipfel des Piemont. Wir folgen quasi dem Po von Turin aus zu seiner Quelle, und landen am Monviso, dem Hausberg des Städtchens Saluzzo.
Am Rande der Berge ist das Klima gemäßigt, Saluzzo hat sogar eine eigene Rebsorte hervorgebracht, die Pelaverga. Der Wein wird kräftig, stammt von großen Trauben und ist hervorragend zur Verdauung der reichhaltigen piemontesischen Küche geeignet.
Auch gilt die Region als das Reisbecken Italiens, und darum serviert man im Restaurant Interno Due zum Beispiel cunesischen Reis mit Zucchini-Blüten. Che buono!
Im Hinterland von Turin
Nach einem kräftigen Regenguss scheinen die mittelalterlichen Gassen Saluzzos wie leergefegt. Wir schlendern umher und genießen die Ruhe. Man sieht der Stadt noch an, dass sie im 15. Jahrhundert eine gewisse Bedeutung hatte: Backsteinbögen und aufgemalte Steinquader an den Fassaden, Renaissance-Architektur, Marmoreinfassungen.
Sieben Kilometer sind es von Saluzzo nach Manta – ein schöner Spaziergang durch die Natur. Unser Ziel ist das Kastell von Manta mit seinen herausragenden spätgotischen Fresken.
Von der Piazza Castello in Saluzzo geht es über die Via San Bernardino und Via San Lorenzo zunächst durch eine schöne Villengegend, dann an Obstplantagen und Weingärten vorbei.
Wir haben noch nicht genug und visieren das Valle Stura an. Eine Gegend, die von der Landwirtschaft, Roggen, Kartoffeln und Schafen lebt. Es wird höher, dramatischer. Die kleinen Ortschaften auf dem Weg wirken wie ausgestorben, und aus den grünen Tälern sieht man hinauf bis zu schneebedeckten Bergspitzen.
Polenta aus Buchweizen
Auf den Wegen der Schäfer kann man hier wandern, der sogenannte „Lou Viage“ führt auf 16 Etappen durch das Valle Stura, von denen die längste sechs Stunden dauert. Der okzitanische Begriff bedeutet nichts anderes als „die Reise“. Einst war es der Weg der Schäfer über die Berge nach Frankreich, wo sie während des Winters lebten.
Wir laufen durch das Vallone di Rio Freddo, immer den plätschernden, gurgelnden Fluss entlang. Hinter Vinadio geht es los, auf 1500 Metern Höhe. Bis zum Fuß des Monte Malinvern wandern wir vorbei an unzähligen Goldregen-Bäumen, was für ein Duft im Mai und Juni!
Es folgen dichte Wälder mit Fichten, Weißtannen, darunter Heidelbeerbüsche und Rhododendron. Wer Glück hat, kann hier sogar Rehe, Gämse, Steinböcke oder Murmeltiere sehen. Wir leider nicht.
Nach etwa einer Stunde kehren wir im „Rifugio Malinvern“ auf 1839 Metern Höhe ein, wo wir die für die Gegend typische Polenta aus Buchweizen probieren wollen. Auch leckeren Käse bekommen wir hier.
Was jetzt noch fehlt, so zum Abschluss ist … ein Bicerin. Also zurück nach Turin? Doch dann erfahren wir von den Süßigkeiten Cuneos. Das Piemont – eine never ending food story.
Text und Fotos: Elke Weiler
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