Nah am Wal

Der Mann, der aussieht wie ein Wikinger, kräftig, rotblond, kommt eigentlich aus Düsseldorf. Als Ssemjon Gerlitz vor 13 Jahren nach dem idealen Ort suchte, wusste er, dass er ihn nördlich des Polarkreises finden würde.

In Nyksund auf den Vesterålen hat er sich spontan verliebt. Zwar war der einst bedeutende Fischerort auf der Inselgruppe halb verfallen und verlassen. Aber für jemanden wie Ssemjon galt das eher als Herausforderung.

Wir fahren parallel zur Küste. „Im Gegensatz zu den Lofoten ist hier hauptsächlich die Westseite besiedelt“, weiß der Nordnorwegen-Spezialist. Auf den Lofoten wären die Berge höher, denn auf den Vesterålen hätten sie länger unter den Gletschern gelegen.

Auch wenn wir jetzt 200 Kilometer nördlich vom Polarkreises sind, leiden wir nicht unter extremen Temperaturen. Denn eines haben die beiden Archipel gemein: Beide profitieren klimatisch vom Golfstrom.

Auf den Vesterålen
Auf den Vesterålen

Etwa 32.500 Menschen leben auf den Vesterålen, verstreut auf der insgesamt 3.100 Quadratkilometer großen Fläche. Sortland, die größte Stadt, sehen wir nur im Vorbeifahren, ihre blauen Häuser leuchten über dem Wasser.

„Als ich nach Nyksund kam, kaufte ich eine Ruine, hatte kein fließendes Wasser und keinen Strom“, erzählt Ssemjon weiter. Im Winter holte er sich Eis von draußen und schmolz es. Heute sieht alles anders aus. Der engagierte Mann führt ein Gästehaus und ein Restaurant.

„Der Ort stand 20 Jahre leer – wir haben versucht, die Geschichte aufzuarbeiten“, meint er – nicht ohne Stolz. Wir, das sind inzwischen 15 feste Einwohner, hauptsächlich aus anderen Teilen Norwegens zugezogen, aber auch aus Deutschland, Tschechien, Holland und von den Philippinen. Sie wollen, dass man Nyksund seine fetten Jahre als Fischerdorf wieder ansieht.

Sieht aus wie von hier: Ssemjon
Sieht aus wie von hier: Ssemjon

Zu unserem großen Bedauern haben wir keine Zeit, das Ergebnis zu begutachten. Aber nach einer Norwegen-Reise ist vor einer Norwegen-Reise. Vielleicht im Winter? Unter Polarlichtern? „Eine tolle Zeit“, meint Ssemjon.

Wir wollen natürlich wissen, ob man bei permanenter Dunkelheit innerhalb zweier Monate nicht depressiv wird. Doch der Wahl-Nyksunder plant im Winter schon für den nächsten Sommer; es gibt einfach immer genug zu tun. Allerdings möge man ihn in der kalten Jahreszeit bitte nicht vor 12 Uhr anrufen.

Ein Elch muss endlich her, beschließen wir spontan. Wir sind ja nun schon einige Tage in Norwegen, ohne einem einzigen begegnet zu sein. Kaum auf den Vesterålen, sieht das plötzlich ganz anders aus. „Da!“, ruft Ssemjon und zeigt nach links.

Und wer versteckt sich da?
Und wer versteckt sich da?

In der Nähe der Straße wartet das Tier – beobachtend hinter dem dünnen Geäst zweier Bäume. Ssemjon lacht. Normalerweise versucht nämlich jeder auf den Vesterålen, solche Begegnungen zu vermeiden: „Sie können einem das Autos ganz schön demolieren, wenn man in einen Trupp hineingerät!“

Wir erzählen dem Auswanderer von unserem Angelerlebnis auf den Lofoten. An der Westküste werde meist mit der Langleine gefischt, die Beute dann einzeln abgenommen und sofort getötet, fährt unser Begleiter fort. „Der Skrei produziert weniger Stresshormone, wenn er direkt geschlachtet wird.“ Es dreht sich wieder alles um den Kabeljau.

Ich blicke hinaus, diese abgerundeten Formen der Vesterålen-Landschaft gefallen mir. Wir halten Ausschau nach den pinguinähnlichen Papageientauchern, denn unser Weg führt uns stellenweise ganz dicht ans Meer heran.

Leinen los!
Leinen los!

Doch wegen der Wale sind wir hier, und Ssemjon begleitet uns auf der Walsafari ab Andenes. Vor Ort gibt es erst mal ein bisschen Theorie, willkommen im Walcenter von Andenes.

Warum faszinieren uns Wale so? Warum mögen wir sie?

Benjamin Seyfang gibt sich die Antwort selbst: „Weil es Säugetiere sind.“ Der vielsprachige Guide von „Whale Safari“ ist in der Hauptsaison fast täglich draußen auf dem Meer, und das ist an der Nordwestspitze der Vesterålen vom 15. Juni bis zum 20. August.

Wissenschaftlich gesehen, ist diese These nicht haltbar.
Wissenschaftlich gesehen ist diese These nicht haltbar.

Er begleitet die Safari-Gäste und erläutert vor der Schiffstour bei einer Führung durch das angeschlossene Museum die Evolution und Anatomie der Tiere. Obwohl vollständig an das Leben im Wasser angepasst, besitzen Wale die Merkmale höherer Säuger, verfügen über eine Lunge und ein zweikammeriges Herz, gebären Kälber und versorgen sie mit Milch.

Um Benjamins Frage für uns zu beantworten, steigen wir auf die M/S Reine und starten im Hafen von Andenes hinaus aufs Nordmeer. Und das ist erstaunlich ruhig heute. Trotzdem rät Benjamin uns, bei plötzlich eintretender Seekrankheit an der frischen Luft zu bleiben. Wir sind alle gut eingepackt mit Mützen und Jacken, denn auf dem ausgedienten Fischkutter weht ein frischer Wind.

So düsen wir mit neun Knoten hinaus, die Fotoapparate baumeln vor den Bäuchen, warten auf Stativen. Oben auf der Brücke zieht sich der Kapitän Kopfhörer über, als wir die offene See erreicht haben. Es wird also spannend.

Mr. DJ, wo sind die Wale?
Herr DJ, wo sind die Wale?

Spezielle Unterwasser-Mikrofone vor dem Bug sollen die typischen Walgeräusche hörbar machen. Bald schon übertragen die Lautsprecher ein gleichmäßiges Klacken, und die M/S Reine nimmt Kurs.

Zwei Wissenschaftler sind mit an Bord, doch dem erfahrenen Kapitän zollt man Respekt. Denn wenn einer den Job schon 20 Jahre lang macht, hat er ein besonderes Gespür beim Aufsuchen seiner „Freunde“.

Natürlich kann „Whale Safari“ uns keine Garantie geben. „Aber meistens sind Pottwale zu sehen“, weiß Benjamin, der eigentlich Geographie studiert hat. Ein besonderes Erlebnis ist für ihn, wenn sich Pilotwale zeigen – eine Art Delfin mit kugelförmigem Kopf.

Aber wir wären auch von einem der häufigeren Pottwale mehr als angetan. Benjamin erzählt von „Glenn“, einem etwa 50 jahre alten Tier mit einer weißen Markierung auf dem Rücken. Falls wir so einen breiten Walrücken vor die Linse bekommen, werden wir ihn mit Forscheraugen begutachten. Glenn, wo bist du?

Und Profis mit Stativ
Und Profis mit Stativ

„Walforschung ist Top-Secret“, verrät uns Benjamin. Und doch gäbe es einen Austausch mit einer Forschungsstation auf den Azoren, was die Walwanderungen angeht. Ob Glenn sich dort auch blicken lässt?

Über die Gründe für den Walreichtum im Meer vor Andenes gibt unser Guide natürlich gerne Auskunft. Ist ja auch sein Spezialgebiet, denn es handelt sich um eine geographische Besonderheit.

Der sogenannte Kontinentalhang liegt in relativer Küstennähe, bis zu den Fischgründen ist man nur eine Stunde unterwegs. Dank der Tiefseeschlucht „Bleik Canyon“ finden die Pottwale genug von ihrer Leibspeise: Tiefsee-Tintenfisch. Das führt zu einer stabilen Population.

Augen auf!
Augen auf!

„Keep your eyes on the sea!“, schallt es aus den Lautsprechern. Alle stürmen aufs Oberdeck und halten nach allen Seiten Ausschau. Jeder Hinweis ist willkommen!

Daniele Zamponi hängt mit Super-Teleobjektiv auf der Leiter und mimt den Ausguck. Der Italiener ist wissenschaftlicher Leiter bei „Whale Safari“ und koordiniert die zahlreichen Guides.

Wir starren aufs Meer und verlieren auch die Fachleute nicht aus den Augen. Gibt es Anzeichen? Über den Lautsprecher hören wir es schon: klak-klak, klak-klak. Der Pottwal hat das Echolotsystem perfektioniert, er bläst Luft durch die rechte und linke Nasenpassage hinaus in das Blasloch, unterstützt von dem Spermaceti-Organ in seinem gewaltigen Kopf.

Was für ein herrlicher Blas!
Was für ein herrlicher Blas!

Dabei entsteht ein Geräusch, das über 200 Dezibel laut werden kann. Seine Beute kann der Pottwal damit paralysieren. Wahlnorweger Ssemjon, der ebenfalls mit an Bord ist, gibt uns einen Tipp: „Ihr müsst nach dem Blas schauen! Zeigt sich nämlich die Schwanzflosse, taucht der Wal bereits ab.“

Aus der Entfernung erkennen wir nun wirklich die Fontäne des Meeressäugers. Klak-klak, klak-klak. Wann taucht er an die Wasseroberfläche, um Luft zu holen?

Bei unserem ersten Wal sind wir noch zu aufgeregt, zu eifrig mit Fotografieren beschäftigt, um ihn richtig erleben zu können. Doch beim zweiten, spätestens beim dritten Mal werden wir gelassener und beginnen, den breiten Rücken zu bestaunen und die Ruhe zu spüren, die das immense Tier ausstrahlt.

Jedes Mal, wenn ein „Diving!“ aus den Lautsprechern ertönt, wissen wir, dass die Kameras schussbereit sein müssen, um das berühmte Schwanzflossen-Foto für die Nachwelt festzuhalten. Egal, dass diese Fotos alle ähnlich aussehen! Es werden unsere sein.

Am meisten fasziniert hat mich Wal Nummer Vier, der sich nah heranwagte, abtauchte und uns dann auf der anderen Bootsseite überraschte. So ein Schelm. Während Nummer Fünf eher scheu reagierte und mit einer für Wale unüblichen Geschwindigkeit das Weite suchte.

Schön sind sie alle.
Schön sind sie alle.

Auf dem Rückweg fassen die Guides für uns zusammen, was wir mit Laienaugen nicht erkannt haben. Unter den insgesamt fünf Erscheinungen wurden von den Forschern drei Individuen ausgemacht. Man registriert die Geräusche und fotografiert die Flossen, eine Art Fingerabdruck der Tiere.

Aber war der berühmte „Glenn“ darunter? Wir meinen, ihn gesichtet zu haben, doch Daniele winkt ab. „Glenn ist sehr speziell“, meint der Forscher. Und da ist immer noch diese Begeisterung, Daniele liebt seinen Job. Er erklärt uns die genaue Art seiner Markierung, denn einen weißen Fleck auf dem Rücken haben auch andere Meeressäuger.

Während wir bald in Andenes anlegen und am nächsten Tag den Rückweg antreten müssen, darf der Walspezialist in Nordnorwegen bleiben. Ebenso wie Ssemjon, Benjamin und all die Anderen, die wir hier getroffen haben.

Winke, winke!
Winke, winke!

Ein bisschen neidisch sind wir schon.

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an Innovation Norway, die diese Reise ermöglicht haben.

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