Da ist nur dieses eine Geräusch, das alles übertönt. Die Kufen schrammen über das weiß gepuderte Eis des Hjälmaren. Da ist nur diese eine Farbe, die alles beherrscht. Das Eisgrau des Sees geht in das Eisgrau des Himmels über. Die kleinen Figuren, irgendwo am Horizont, verlieren sich in diesem unwirklichen Raum.
Wie Watte wirkt die Umgebung. Ein Film ohne Ton.
Schneeflocken tanzen um mich herum. Immer wieder bleibe ich stehen, die Anderen laufen weit vor mir. Fast möchte ich allein sein in diesem unbekannten Universum. Es kennenlernen. Doch nur Roger Hjälm weiß, wie wir sicher über den zugefrorenen See kommen. Der Gourmetkoch aus Katrinelund kennt sich mit all seinen Schattierungen aus, und wir sollen seiner Spur folgen.
Letzte Woche seien sie noch mit Autos über den Hjälmaren gefahren. „Aber das war wohl das letzte Mal in diesem Winter“, meint Roger. Nach zahlreichen Arbeits- und Abenteuerjahren in der Welt ist er nach Katrinelund zurückgekehrt. Einst wollte der Koch alle Gipfel der Erde erklimmen.
Dann wurde er mit einem Kochbuch in Schweden berühmt und fand das alte Haus am See. Wann immer das Eis gut ist, und er Zeit findet, klickt er die speziell zum Eislanglaufen gefertigten Schlittschuhe an und erkundet den Hjälmaren. Am besten zu zweit, das ist sicherer, falls mal etwas passiert. Und ein unfreiwilliges Winterbad im See hat er schon desöfteren genommen.
„Das gehört dazu“, findet Roger und lacht. Doch wir wollen nichts davon hören, eventuell einzubrechen. Immerhin soll die Eisschicht um die 35 Zentimeter dick sein. Außer Schlittschuhen und Stöcken erhält jede von uns ein Survivalkit bestehend aus zwei Griffen mit Eispickeln, so dass wir uns im Notfall aus dem Loch herausziehen können.
Die richtige Technik
Eine Trillerpfeife sowie ein Mini-Kompass hängen ebenfalls am Hilfsgerät, das wir wie ein Schmuckstück um den Hals tragen, immer griffbereit. Als ich die ersten Schritte auf dem Eis mache, merke ich den Unterschied zu normalen Schlittschuhen oder Inline-Skates. Das Fahrgefühl ist anders, ganz anders, es erinnert an Skilanglauf. Ähnlich wie bei den Skiern werden die Kufen unter den Schuhen festgeklickt.
Zumindest der vordere Part, während der hintere nach oben beweglich ist. Ich muss meine Schritte begradigen, zumal die Oberfläche leicht bis stark angeraut ist. Roger demonstriert, dass es derzeit wenig Sinn macht, mit weiten Schritten auszuholen. Grinsend erzählt er von seinem schottischen Kochkollegen, der quasi auf den Innenflächen der Schuhe gelaufen sei, was ihn extrem viel Zeit gekostet habe.
„Pass auf den Schnee auf!, warnt er plötzlich, doch es ist schon zu spät. Ich lande mitten in einem weißen Feld, das mich stark ausbremst. In solchen Fällen drücke ich mich zwar mit den Stöcken vorwärts, doch über mangelnde Arm- und Bauchmuskulatur wollen wir gar nicht erst reden.
„Ist es nicht schön, übers Wasser zu laufen?“ Roger strahlt uns an. Doch so ganz kann ich seine Begeisterung nicht teilen, dafür ist die Tour zu mühselig, der Tag zu schlecht zum Eislaufen. Immerhin treffen wir zwei seiner Freunde auf dem Eis, die gerade von einer Tour zurückkommen und nicht so begeistert von den Konditionen sind.
Verschluckt vom Winterweißgrau
Doch was sollen wir tun? Wir haben nur diesen Tag zum Eislaufen. Und morgen soll es auch nicht besser werden. Bald wird der Frühling kommen. Die Jungs wünschen uns noch viel Spaß und schauen uns leicht amüsiert hinterher. Rogers Ziel heißt Göksholms slott, eine mittelalterliche Burg, die heute als Wohnhaus genutzt wird. Allerdings kann ich nirgendwo am Horizont ein größeres weißes Gebäude ausmachen.
Alles verschwindet im Winterweißgrau, die Farbe umhüllt uns, und meine Motivation schwindet. Mein rechter Fuß knickt ständig ab, ich habe den Schuh nicht fest genug geschnürt. Angeblich sind es nur sechs Kilometer von unserem Startpunkt bis zum Schloss. Doch irgendwo hinter der Hälfte fühle ich mich wie nach einem halben Marathon. Die Oberfläche wird rauer, jeder Schritt schwer wie Blei. Die Anderen sind weit vor mir und bleiben stehen.
Das Eis kracht. Ein Riss in der Platte mache noch keine Gefahr aus, hat Roger gesagt. Anders sieht es ein Stück weiter aus, wo sich Schollen gegeneinander geschoben haben. „Wenn so etwas passiert, klingt es, als würde ein Tornado landen“, erzählt Roger. Ob wir den Eisbruch mit einem Riesenschritt passieren können, ist ungewiss.
„Vielleicht kommen wir hier rüber“, meint Roger und testet das Eis rundherum, indem er mit einem seiner Stöcke hineinsticht, immer wieder. Schließlich entscheidet sich der Fachmann für einen anderen Weg – Richtung Ufer. Der Wind frischt auf, er bläst uns nun ins Gesicht. Ich habe das Gefühl, kaum noch voran zu kommen.
Da ist nichts in diesem endlosen Raum.
Rundherum nur Eis, Eis, Eis. Beige, grau, weiß. Gefleckt, gelöchert, geritzt, gepudert. Vertiefungen, in denen Blätter liegen, schwimmen, als hätte sie jemand kreiert. Am Ufer nur graubraune Bäume und eine einsame Figur. Suzanne, meine Hoffnung. Sie hat die Tour nicht mitgemacht, ist noch nie im Winter über den See gelaufen. Doch mit dem Auto ist sie uns gefolgt, im großen Bogen um den See.
Die Anderen wollen weitermachen. Insgesamt drei Stunden werden sie für die 12 Kilometer bis zum Schloss brauchen. Roger hatte anfangs von etwa sechs Kilometer bis zum Ziel gesprochen – aus taktischen Gründen. Geschenkt. Beim letzten Drittel passe ich, am Ende ist mir das Vorwärtskommen zur Qual geworden.
Was für eine Erleichterung, die Kufen abzuziehen und zu Fuß über den See zum Ufer zu laufen! Back to life. Suzanne ruft mir noch zu, ich solle nicht zu nah an das Schilf herangehen, dort sei Wasser zu sehen. Ich bin erschöpft und erleichtert. Vielleicht hätte ich doch vorher frühstücken sollen.
Zweiter Versuch
Es gibt Kaffee, Brote und Obst im Auto, ein köstliches Mittagessen in Katrinelund und eine Siesta für mich. Danach Sauna. Am nächsten Tag fühle ich mich fit. Die Sonne scheint, und Roger meint, der See wäre nun glatter und leichter zu befahren. Der Himmel spiegelt sich in den Wasserpfützen, wunderschön.
Wir starten gleich in Katrinelund und peilen die kleinen Inseln in der Mitte des Sees an. Dort wollen wir ein Fischer-Ehepaar treffen, die mit dem Motorschlitten jeden Tag über den Hjälmaren fahren und ihr Glück versuchen. „Die Adler werden auch dort sein“, meint Roger. Sie seien immer dort, wo die Angler sind. Eine gute Möglichkeit, an eine Portion Fisch zu kommen.
Heute ist alles anders. Ich genieße jeden Schritt auf dem Eis, fast stören mich die Stöcke. Doch wer bei kleineren Unebenheiten stolpert, den retten sie vor dem Fall. Ständig möchte ich nur stehenbleiben, schauen, staunen, lauschen. Zwar war die Stimmung am Tag zuvor mystischer, doch heute fasse ich endlich Vertrauen.
Mein Wissen über die Beschaffenheit von Eis ist weiterhin beschränkt. Trotz der Antarktis-Erfahrung. Meine ich doch, das weiße Eis sei das bessere, tragfähige. Roger klärt uns auf. Eigentlich können wir nämlich dem transparenten Teil mehr vertrauen. Hier und dort bittet er uns zu warten und überprüft gerissene Stellen. Dann winkt er uns heran, eine nach der anderen dürfen wir mit einem großen Schritt den Riss überqueren.
Die Eisfischer
Sorgen mache ich mir nicht, vielmehr kann ich das Eislaufen nun genießen. Auch an die halb losen Kufen habe ich mich gewöhnt. Es dauert nicht lange, da sehen wir Britt und Leif auf dem See. Sie freuen sich über den Besuch und das prächtige Wetter. Gerne zeigen sie uns ihren Fang, ein paar Barsche, die sie bereits geangelt haben.
Wir dürfen es auch mal über einem Eisloch versuchen und probeweise mit dem Handbohrer ein Loch fräsen. Beides habe ich bereits in Finnland ausprobiert, beim Angeln war ich jedoch noch nie erfolgreich. Britt und Leif sind jeden Tag auf dem See, auch bei unwirtlichen Minusgraden. Im Anhänger liegen Felle, Decken, es gibt Sitzgelegenheiten und sogar ein Heizgerät.
Ich könnte noch ein Weilchen bei Britt und Leif auf dem See bleiben, verfluche aber die Tatsache, dass ich immer noch kein Schwedisch spreche. Roger muss übersetzen. Nur ein paar Wörter kann ich verstehen. So wünschen uns die beiden beim Abschied schon mal „glad påsk“ – frohe Ostern.
Roger will weiter. Die Adler können wir nur via Fernglas identifizieren. Ich schaue wieder aufs Eis und entdecke Tierspuren, festgefroren bis zum Frühling. War es ein Reh? Laufen Rehe übers Eis? Roger meint Ja. Doch warum gehen sie dieses Risiko ein? Sie können die Dicke der Eisschicht ja nicht messen. Vielleicht hören und riechen sie es, wer weiß. Vielleicht brechen sie auch manchmal ein.
Vielleicht haben sie Glück, wie wir.
Text und Fotos: Elke Weiler
Mit Dank an die Crew der Katrinelund Gästgiveri & Sjökrog, die zu dieser Reise eingeladen haben, und uns nicht nur den See, sondern auch die schwedische Küche näher gebracht haben. Sowie an Primo PR für die Organisation.
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