Als ich am Freitagabend in Mariehamn ankomme, ahne ich noch nichts von meinem Glück. Es regnet, der Wind bläst kräftig zur Begrüßung, und in der Hotelbar legt sich ein schwedischer Country-Sänger ins Zeug. Ich verkoste ein paar Tapas nach Julbord-Art, sozusagen einen repräsentativen Querschnitt durch das Weihnachtsbuffet, schließlich haben wir fast den ersten Advent.
Am nächsten Tag darf ich handwerklich tätig sein, und es geht nicht um Weihnachts-, sondern Silberschmuck. Gemeinsam mit Riita, die in Mariehamn lebt, wollte ich eigentlich nur mal kurz im ehemaligen Viertel der Fischer vorbeischauen, dem Sjökvarteret.
In einem der umgestalteten Bootshäuser fragt man mich netterweise, ob ich Hand anlegen möchte und die herzförmige Fassung für ein Stück roten Åland-Granits anfertigen möchte. Zögerlich willige ich ein. Eigentlich nur, weil Goldschmiedin Annie mir dabei zur Seite steht und jeden Schritt detailliert erläutert, wenn nicht sogar an ihrem eigenen Stück Silber vorhämmert.
Mein Herz für Åland nimmt also Gestalt an. Es existierte vorher schon, genauer gesagt, seit Ende August 2017, seit meiner Entdeckung von Havsvidden im Norden des Archipels. Nun bin ich wieder auf der Inselgruppe zwischen Schweden und Finnland gelandet. Und die kurzen Tage im Dezember stören mich nicht.
Ich sehe mich noch ein wenig im Museum um. Neben der Werkstatt hat die Goldschmiedin Maria, Gründerin von „Guldviva“ und Chefin von Annie nämlich Arbeiten und Einrichtungsstücke ihrer „Vorfahren“ ausgestellt. Die Kette der Goldschmiede-Lehrer lässt sich bis auf einen Zuwanderer aus Sankt Petersburg zurückverfolgen.
Bei „Salt“, einem anderen Bootshaus-Geschäft, haben sich diverse Åländer Kunsthandwerker zusammengetan, um ihre Produkte feilzubieten. So kurz vor Weihnachten dominiert die Farbe Rot. Es gibt Teppiche, Schmuck, Weihnachtsdeko, Tischläufer, Holzkörbe, Seifen, Kerzen, Taschen und Geschirr. Alles handgemacht.
Riita will mir den Weihnachtsmarkt von „Jan Karlsgården“ zeigen, eine Art Freilichtmuseum in Sund, das direkt neben dem einzigen mittelalterlichen Schloss des Archipels liegt, Kastelholm. Es sind etwa zwanzig Holzgebäude unweit der steinernen Architektur aus dem Mittelalter. In „Jan Karlsgården“ soll man einen Eindruck vom einstigen bäuerlichen Leben auf den Inseln erhalten, allerdings nur zwischen Mai und September.
Hier wird traditionell die Maistange für Mittsommer errichtet, und im Dezember findet eben ein Weihnachtsmarkt statt. Viele sagen, es sei der schönste auf ganz Åland. Als sich der Nieselregen in ein flockiges Schneetreiben verwandelt, scheint die Kulisse perfekt zu sein. Doch nichts davon bleibt.
Die kleine Weihnacht
Lillajul hat einen festen Termin: Es geht immer um den Samstag vor dem ersten Advent, also heute. Am Abend schmücken die Familien einen kleinen Weihnachtsbaum, und wenn die Kinder Glück haben, kommen die Wichtel und bringen kleine Geschenke vorbei. Zum ersten Mal werden alle Kerzen angezündet, die gemütliche Weihnachtszeit beginnt.
An den Ständen wird neben Gestricktem und Gebasteltem auch Räucherfisch und viel Sanddornsaft verkauft. Mit seinem hohen Vitamin-C-Gehalt ersetzt er Zitrusfrüchte perfekt. Es gibt sogar Glögg auf Sanddornbasis, allerdings nicht zum Probieren. Ansonsten ist Glögg sehr präsent. Und dann sagt Riita es: „Heute Abend wird Lillajul gefeiert.“ Die kleine Weihnacht. Sie kennt das schon aus ihrem Geburtsort Tampere, in Finnland spricht man von pikkujoulu, während es in Schweden nicht bekannt ist.
Für einige ist es eine gute Gelegenheit, zusammen mit Freunden zu feiern, während das eigentliche Weihnachtsfest eine familiäre Angelegenheit ist. Die Erwachsenen gehen gerne essen, entweder zum Julbord ins Restaurant, dem typischen Weihnachtsbuffet, oder man trifft sich zu Hause.
Ein Vorgeschmack auf das Lucia-Fest
Auf Åland gehört der Besuch von „Jan Karlsgården“ dazu, hier trifft sich quasi die ganze Insel an Lillajul. Und es ist gewiss das einzige Mal im Jahr, das eine entfernt an städtische Verhältnisse erinnernde Parkplatzsituation entsteht. Während wir über den kleinen, feinen Markt schlendern, trifft Riita eine Freundin, die auf dem Weg zum letzten Lucia-Singen vor der Wahl ist.
Spontan schließen wir uns an und statten Schloss Kastelholm einen Besuch ab, wo wir dem Gesang der Mädchen lauschen dürfen. Glögg & Pepparkakor gibt es dazu, Glühwein ohne Wein mit Rosinen und Mandeln und dazu Ingwerplätzchen. Grundsätzlich wird zwischen Vinglögg und Saftglögg unterschieden.
Die Lucia-Anwärterinnen im Alter zwischen 17 und 20 Jahren betreten den gut gefüllten Raum. Ihre Stimmen klingen so abwechslungsreich wie ihre Art zu interpretieren, was vor allem bei den Solos auffällt. Allerdings ist ein Solo kein Muss für die Teilnahme an der Lucia-Wahl. Meist wäre es wohl so, meint Riita, dass diejenige mit der größten Familie und dem umfangreichsten Bekanntenkreis gewänne.
Heute werden nicht die typischen Lucia-Lieder gesungen, sondern stimmungsvolle Klassiker wie „Bridge over troubled water“ – in der schwedischen Version. „Keine macht es, um zu gewinnen“, meint Riita. Das Publikum hört gebannt zu und freut sich schon jetzt auf das Lucia-Fest, den 13. Dezember, wenn die Lichterkönigin mit Gesang und Gebäck die Herzen der Menschen erfreut.
Darf es ein bisschen Tomtegröt sein?
Mir wird immer klarer, dass die Schweden, die Åländer und die Finnen einfach das Optimum aus der Vorweihnachtszeit herausholen. Warum auch nicht. Es ist schließlich die dunkelste Zeit im Jahr, da kommt eine Lichterkönigin gerade recht. Sowie Lillajul.
Riita und ich nehmen ein kleines Lunch im nahen Restaurant „Smakbyn“, wo nordische Genüsse von Chef Michael Björklund, kurz Micke genannt, und seinem Team zubereitet werden. Gerade sind alle eifrig dabei, das Buffet für Lillajul aufzubauen. Zum Mittagessen gibt es Tomtegröt, in Milch gekochte Hafergrütze, die wahlweise gezuckert und mit Zimt bestreut werden kann, dazu ein Schinkenbrot.
Als wir schon gehen wollen, treffen wir noch auf Jenny, Mickes Frau, die sich mit einem hübschen Elchgeweih aus Filz dekoriert hat. Sie erzählt uns, dass sie am frühen Morgen einem echten Elch auf der Straße begegnet ist, zum Glück hat er nur dort gestanden und sie angeschaut, vielleicht wegen des Geweihs. Auch auf den Åland-Inseln sind Begegnungen mit dem scheuen König der Wälder stets mit der Angst vor einem Autounfall verbunden.
Riita will mich nun in den Westen des Archipels bringen, nach Eckerö. Hoffentlich elchlos durch die Dunkelheit. Irgendwann endet die beleuchtete Straße, und wir müssen auf eine schmalere Strecke in Richtung „Björnhovfda Gård“ abbiegen, das mein Zuhause für die nächsten Tage sein wird. Der Regen hat aufgehört, als wir bei Jackie und Hans Lindmark eintreffen, die genau wie das „Smakbyn“-Team mit dem Buffet für Lillajul beschäftigt sind.
Am Anfang ist der Glögg
Hier draußen auf Eckerö findet das Julbord in einem intimeren Rahmen in den weihnachtlich präparierten Räumlichkeiten statt. Ein Stil, irgendwo zwischen skandinavisch und englisch mit einer guten Portion Nostalgie. Außer mir treffen noch drei Familien fürs Julbord ein, denn Björnhovfda funktioniert nicht nur als Bed & Breakfast, sondern auch als Restaurant an ausgewählten Tagen.
Alle außer mir haben sich feingemacht für Lillajul. Wieder wird mit einem Gläschen Glögg und Ingwerplätzchen im Salon begonnen, so nach und nach verlagert sich die Aktivität dann ins Restaurant. Hans versorgt mich mit Empfehlungen und bringt Rotwein ebenso wie Schnaps, der mit Tanne und Beeren aufgesetzt ist. Denn Schnaps gehört zu jedem Julbord dazu.
Klassiker wie Janssons Frestelse ebenso wie diverse Arten von eingelegtem Hering, Grünkohl, Rosenkohl, Lachs und Köttbullar. Ich liebe Janssons Versuchung, ein Auflauf aus Kartoffeln, Zwiebeln, Anchovis und Sahne. Einfach und köstlich. Mehr brauche ich theoretisch nicht. Doch Jackie und Hans machen mich auf die anderen Köstlichkeiten aufmerksam, und ich gelobe, hier und dort kleine Häppchen zu probieren.
Und überall das Meer
Meine persönliche Neuentdeckung ist im Ofen gebackenes Steckrübenmus. Dafür werden die Steckrüben zunächst gekocht, zerkleinert, mit Sahne und Sirup „veredelt“, und dann kommt das Ganze noch in den Ofen mit etwas Butter on top. „Das essen sie in Finnland, in Schweden eher nicht. Es passt gut zum Weihnachtsschinken“, erklärt Jackie.
Die Åland-Inseln in der Mitte zwischen Schweden und Finnland vereinen das Beste aus beiden Ländern, so kommt es mir vor. Beim zweiten Gang zum Hauptbuffet, also noch vor dem Dessertbuffet mit Safrangebäck, -pannacotta, Milchreis und Pralinen, spricht mich ein älterer Herr auf Schwedisch an. „Sorry“, sage ich. Denn mein Schwedisch-Kurs gerät immer wieder ins Stocken. „Do you live here?“, will er wissen. Leider nur für ein paar Tage, antworte ich auf Englisch.
Und ich freue mich schon, morgen alles bei Tageslicht zu sehen. Weit vom Meer sind wir übrigens nicht entfernt. Aber das ist auf Åland auch unmöglich.
Text und Fotos: Elke Weiler
Mit Dank an Visit Åland & Visit Finland, die meine individuelle Recherchereise unterstützt haben.
Mehr Åland im Winter? Kommt mit auf eine Bootstour durchs Archipel!
Ohh, was für ein schöner Beitrag!
Da bekomme ich gleich noch mehr Lust auf meinen ersten Åland Besuch im Januar :-)
Feine Grüße und schöne Feiertage liebe Elke!
Ganz lieben Dank, Rike! Das wird bestimmt ganz toll im Januar, grüß‘ mir die Inseln! Liebe Grüße und god jul! Elke
Was für ein schönes Erlebnis,dieses lillajul Weihnacht auf Åland!
Ja, absolut! Lillajul ist eine super Erfindung.
Ich bekomme immer mehr Pippi in die Augen, liebe Elke, wenn ich das so lese. Alle deine Punkte stehen jetzt bei mir im Bauch auf der Liste!
Auch, wenn ich nicht alles kommentiere, hast du hier eine begeisterte Leserin mehr.
Frohe Weihnacht und ein gesegnetes Fest, god jul!
Liebe Grüße
Franziska
Ganz lieben Dank, Franziska, das freut mich sehr! Alles Liebe und god jul! Elke
Oh wow wie schön es dort aussieht, am liebsten möchte ich auch dahin…
Dieses Jahr geht es für mich nach den Norden nach Schweden, Dänemark und nach Oslo. Ich freue mich schon total darauf.
Liebe Grüße
Luisa
Wow, Luisa, das klingt aber top! Ich wünsche dir ganz tolle Reisen! LG, Elke