Still war die Nacht, wundersam still. Nur die Schreie der Wattvögel durchbrachen die Ruhe. Ab und an ein Tuten aus der Ferne. Es sind riesige Containerschiffe, die wie in Zeitlupe durch die Fahrrinne der Weser kriechen. Größer könnte der Kontrast nicht sein: Geradeaus das Watt, links die Kaje von Bremerhaven, deren Kräne wie starre Roboter je nach Licht mal näher, mal weiter weg rücken.
Beleuchtet, gespenstisch in der Nacht, die langsam vom Blau des Morgens verdrängt wird. Die Feuchtigkeit hat sich auf die Scheiben von Emilia gelegt, ich habe meine allererste Nacht in der Acadiane hier im Cuxhavener Land verbracht. Mit Blick auf die Wesermündung, die sich wie das Watt der Nordsee anfühlt, anhört. Kein Wunder, dass sie die Gegend hier Wurster Nordseeküste nennen.
Noch vor dem Wecker stehe ich auf, mache mich fertig, streife zu Fuß über den Campingplatz, um die Anderen nicht zu stören, um die Stille nicht zu zerreißen. Was für ein Morgen! Was für ein Licht! Noch vor Sonnenaufgang ziehe ich los, kein Mensch unterwegs. Nur eine Katze, die den Deich hinauf saust.
Das Gras noch nass von der Nacht, Nebelschwaden rings um den schwarzweiß-gestreiften Leuchtturm, den sie hier Kleiner Preuße nennen. Von den sechs Kuttern im Hafen ist nur einer trockengefallen, die restlichen scheinen unterwegs zu sein. Ich laufe die Deichkrone entlang und wechsele auf die Straße hinterm Deich.
Weit kann es nicht sein bis Ueterlüe Specken, auch wenn das „abgelegene Stelle“ bedeutet. So sagt der letzte Reusenfischer, mit dem ich um 5 Uhr morgens verabredet bin. Ein Hase hoppelt über den Deich, ein Reh verschwindet im Dickicht zwischen den Feldern. Der Horizont glüht. Nicht die Sonnenaufgänge oder -untergänge sind das Spektakel. Es ist die Zeit davor und danach.
Pferde grasen im Nebel und schauen mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Sie gehören zum Hof des Fischers, der mich bereits erwartet. Seine Hunde sitzen im Auto, bereit für die Arbeit. Rex` Nase nähert sich, er schnuppert neugierig, als ich mich auf dem Beifahrersitz niederlasse.
Erhard Djuren startet den Wagen, und wir reden, während er seinen Deichabschnitt ansteuert. Ein Kuriosum, dass 90 Hektar hier in Privatbesitz sind, insgesamt gehört der Abschnitt 30 Eigentümern und wird nach einem bestimmten Schlüssel aufgeteilt – das war schon im 17. Jahrhundert so.
Schafe habe ich auch weiter südlich keine gesehen. Am Wremer Tief, so scheint es, mäht man die Deiche mit Maschinen. Und das Gras ist tiefgrün und saftig, denn die Wremer leiden nicht unter der großen Trockenheit wie die Nordfriesen. Erst gestern hat es noch geregnet, als ich am Hafen saß und frische Krabben vom Kutter probiert habe.
Wir fahren über den Deich, und Djuren erzählt von einem Dorf, der nicht mehr existiert: Schmarren. Nach der Sturmflut von 1962, als der Deich hier brach, hat man die Deichlinie begradigt und Schmarren mit seinen 35 Bewohnern, Fischern wie Landwirten, musste weichen. Damals gab es noch professionelle Reusenfischer, obschon die motorisierte Kutterfischerei ihnen zu schaffen machte.
Genau dort, wo der selbst gezimmerte Wattschlitten abfahrbereit an der Wattkante steht, parkt der Fischer seinen Wagen und lässt die Hunde hinaus. Paul, Astra und Rex lassen sich bereitwillig vor den Schlitten spannen, dann ziehen sie das Gerät samt Fischer durch den Schlick. Ich bin schon ein Stück vorausgegangen, immer den Weg entlang, den Erhard Djuren mit kleinen Prickeln abgesteckt hat. Es ist nicht der direkte Weg zum Priel, sondern der beste.
Oft sacke ich ab, aber nie tiefer als knöchelhoch. Einmal verliere ich einen Wattschuh, kann ihn jedoch wieder aus dem Schlick befreien. Wer zwei Mal täglich hier hinaus muss, ist mit dem Schlitten klar im Vorteil. Und den stellt Djuren noch in traditioneller Manier her, genau wie seine Reusen aus Weidengeflecht.
15 hat er im Schmarrener Loch aufgestellt, doch nur fünf davon mit Verschlussstücken ausgestattet. Diese sind prallvoll gefüllt mit Krabben. „Das ist nicht normal“, meint der Reusenfischer. So viele Krabben, da werde der Preis wohl sinken. Als er anfängt, Korb um Korb zu sieben, stellt sich bald heraus, dass die Krabben noch zu klein sind. Nur ein Bruchteil bleibt im Sieb zurück.
„Die besten Monate für Krabben sind August, September, Oktober. Dann sind sie am dicksten“, weiß der Reusenfischer aus Erfahrung. In diesem Jahr hat er die Körbe erst spät aufgestellt, weil das Frühjahr eher schlecht anlief. Und auch dieser Fang bestätigt ihm, lieber noch zu warten. Aber Erhard Djuren muss damit auch nicht seine Brötchen verdienen.
Der Landwirt ist schon über 70 und der letzte Reusenfischer, der auf traditionelle Art mit dem Wattschlitten zu den selbstgebauten Reusen hinausfährt. Um 1900 fing es mit der Reusenfischerei am Wremer Tief an, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts von der Kutterfischerei nach und nach verdrängt wurde. Der letzte professionelle Reusenfischer, Werner Hoffmann, habe in den 70er Jahren das Handtuch geworfen.
Djuren ist selbst 20 Jahre lang mit dem Kutter gefahren, bevor er 2001 zurück zu den Reusen ging. „Das ist die Ur-Fischerei“, meint er. Vermutlich haben schon die Menschen in der Jungsteinzeit mit Reusen gefischt. Zur Zeit gibt es keinen Nachfolger für dieses Stück Wattkulturgeschichte. „Keiner interessiert sich dafür“, meint Djuren. „Aber man kann das auch nur machen, wenn man hier am Deich wohnt.“
Sind die Reusen nämlich erst mal geschlossen, gelangen die Krabben mit der nächsten Flut hinein und müssen in der darauffolgenden Ebbe geleert werden. Das bedeutet: Zwei Mal täglich geht es ins Watt, egal, welches Wetter. Ein Stück rechts vom Priel ragen die Reusen vom letzten Jahr aus dem Schlick. Erhard Djuren hat sie nach dem ersten Herbststurm nicht mehr herausziehen können.
„Hier sieht man, wie der Priel wandert“, sagt der Reusenfischer. Seitdem er seine Reusen aufstellt, habe sich das Schmarrener Loch um 400 Meter bewegt. Wir stehen wadentief im Wasser, der Untergrund ist voller Muscheln. Etwa 50 Meter weiter hat sich ein Möwengeschwader über die gesamte Breite des Priels verteilt, nach den ausgesiebten Krabben des Reusenfischers gierend.
Natürlich versuchen die Möwen in Abwesenheit des Fischers aus den gefüllten Körben einzelne Krabben herauszupicken. Doch Djuren weiß, wie die Körbe zu flechten sind, um das zu verhindern. Wissen, das verloren geht, wenn es in Wremen keinen Nachfolger gibt. Schade um diese alte und bodenschonende Art der Krabbenfischerei.
Rex, Astra und Paul warten geduldig am Rande des Priels, bis es wieder heimwärts geht. Sie wissen, dass es eine Belohnung gibt, und dass die eine oder andere Krabbe für sie abfällt. Als Djuren den Tretschlitten anschiebt, laufen sie ohne Unterbrechung etwas mehr als einen Kilometer zurück durchs Watt.
Der Schlick spritzt nach allen Seiten, die Sonne steht schräg über glitzernden Wattflächen. Mir ist, als sei der halbe Tag schon vorüber, dabei fängt er gerade erst an. Zurück hinterm Deich begrüßt uns Djurens Frau Hanni. Sie hat die Kochstelle in der Scheune beheizt und wirft noch ein Holz hinein.
Sieben Minuten müssen die Garnelen in etwa kochen, die Garen schwimmen oben. Um den Absatz muss der Fischer sich keine Sorgen machen, meist sind seine Granat, wie man hier sagt, bereits vorbestellt. Mit viel Wasser befreie ich meine Wattschuhe und Beine vom Schlick. Auch die Hunde und seine Wattstiefel duscht der Fischer mit dem Gartenschlauch gründlich ab.
Er erzählt noch, dass er je nach Tide oft in der Dunkelheit aufs Watt hinausfährt. Mit einer Stirnlampe. Diese Möglichkeit bei Sonnenaufgang, das war schon ein Glück, denke ich. Allein dafür hat sich die Fahrt ins Cuxhavener Land gelohnt. „Das war schön im Watt heute“, meint auch Erhard Djuren. Und als ich zurück über den Deich laufe, leuchtet Wremen in der Morgensonne. Langsam erwachend.
Text und Fotos: Elke Weiler
Ich liebe das Meer und die Meere, alle. Doch das Watt ist einzigartig, lebhaft und wundervoll. Über den Meeresboden zu laufen, genau hinzusehen, wie vielzählig sich seine Bewohner dort tummeln, wie der Boden atmet, blubbert, schmatzt, rauscht und vom Meer erzählt. Als wäre seine Andeutung noch feinsinniger und poetischer als das Meer selbst.
Schon seit Jahrhunderten leben Menschen am Watt, die zum Überleben Warften, Wurten und Deiche errichtet haben. Die die fruchtbaren Marschen bewirtschaften, die sie der Nordsee abgetrotzt haben. Zum Thema „Leben am Wattenmeer“ ist ein Bild- und Reportagenband vom Fotografen Ralf Niemzig und mir im Bruckmann Verlag erscheinen.
Liebe Elke,
so wunderschön erzählt – du hast mich mit ins Watt genommen und mir den letzten Reusenfischer nähergebracht. Ich hoffe, er findet eine Nachfolge! Sehr schöne Fotos!
Es freut mich sehr, welche tolle Blogs ich über diese Blogparade kennenlerne! #DHMMeer bringt so viele verschiedene Perspektiven zum Meer zusammen. Bislang gibt es 59 Beiträge, unglaublich! Eine Idee wird von vielen gestaltet und ins Netz geschwemmt – grandios!
Danke dir herzlichst!
Sonnige Grüße aus dem Süden
Tanja von KULTUR – MUSEUM – TALK
Liebe Tanja, ich danke dir, das freut mich sehr. Es war eine tolle Erfahrung dort draußen, ich wäre sonst nie so früh aufgestanden und hätte so einiges verpasst. Das sind genau die Momente, für die ich den Beruf liebe. Diese Momente, in denen er dich ein klein wenig ändert. Alles Gute für die Blogparade! Es ist ein sehr gutes Thema. :-) Liebe Grüße, Elke
Bonjour!
Das war mal wieder ein sehr schöner Kopfausflug. Da ich ein Jahr in Husum gearbeitet habe, kann ich mir noch in etwa die Wandlungsfähigkeit des Wattenmeeres vor Augen führen.
Sonnengrüße von
Franziska
Lieben Dank! Ein Jahr in Husum, wie cool. Das Watt ist irgendwie besonders. Eine ganz eigene Welt. Liebe Grüße, Elke
Liebe Elke,
Am Wochenende bin ich an deinem Auto vorbei gefahren. Neugierig wie ich bin musste ich gleich mal schauen was es auf dem Meerblog zu sehen gibt.
Ich bin begeistert und bekomme direkt wieder Heimweh. Ein Wochenende in Sieversfleth geht einfach viel zu schnell vorbei.
LG Kerstin
Liebe Kerstin, wie schön! Danke dir. Du kommst aus Sieversfleth? LG, Elke
Mein Elternhaus ist die Alte Schule. Dort wo das Honig aus eigener Imkerei Schild an der Straße steht. Wobei der Honig aus meinem Garten kommt und nicht von Sieversfleth.
LG Kerstin
Und du bist verwandt mit Familie Cornils in Wasserkoog? LG, Elke
Habe ich als Kind auch oft gefragt. Aber meine Familie kommt aus St. Peter Ording und ist mit den Tetenbüller Cornils nicht weiter verwandt. Ich gehöre zum Krabbenfischer von Tetenbüll.
LG Kerstin
P.S. Auf meinem Blog habe ich am 13. Juli die Autobiographie von meinem Großvater Johannes Cornils gerade vorgestellt.
Das ist interessant, das schaue ich mir unbedingt mal an. Es gibt ja noch einen kleinen Kutter am Spieker, ist das eurer? LG, Elke
Unser ist inzwischen verkauft und liegt mit neuem Namen und neuer Farbe in Husum im Hafen. Dieser Mini-Kutter liegt schon ewig im Hafen.
LG Kerstin
So eine schöne Geschichte, meine Eltern sind mit uns früher jedes Jahr an die Nordsee gefahren.. ich war so verliebt in das Meer und bin es noch immer :)
Ich werde nun nach dem Abitur selbst ab August für ein Jahr den Planeten bereisen, meine Reise beginnt erst einmal in Australien.. ich freue mich schon unglaublich auf all die Eindrücke und Herausforderungen die mich erwarten werden! :) Du hast mich auf jeden Fall als neue Leserin dazu gewonnen!
Alles Liebe, Lea
Ganz lieben Dank und dir eine super schöne Zeit! Liebe Grüße, Elke
Liebe Elke,
was für ein großartiger Bericht über den Reusenfischer. Und wunderschöne Fotos vom Watt im Morgenlicht! Da hat sich das frühe Aufstehen definitiv gelohnt.
Liebe Grüße aus Hamburg
Kristin
Danke dir, liebe Kristin! Man müsste wirklich öfters mal früh aufstehen (also im Sommer), auch ohne besonderen Grund ist das herrlich bei dem Wetter! Liebe Grüße von der Küste, Elke
Ein toller Artikel mit traumhaften Bildern.
Das Meer ist magisch.
Ich bin hin und weg. Was für ein schönes Porträt, was für schöne Bilder und was für ein beeindruckender Typ. Ich bin echt froh, dass ich auf diesen Blog gestoßen bin und werde hier definitiv wieder reinkieken!
Lieben Dank!
Ganz toller und überaus interessanter Artikel! Vielen Dank!
Das freut mich sehr, dankeschön! :-)