So glatt, das Meer.
Der Wind weht frisch, als das Schiff an Fahrt aufnimmt. Langsam verschwindet Saint Peter Port aus unserem Blickfeld, immer winziger der Hafen und die Häuser, die den Hügel hinaufkriechen. Noch aus der Entfernung wirkt Guernsey wie eine Schönheit, die gerade erwacht. Die mit dem Grün auflebt, das überall wuchert, Grün in allen Tönen. Doch nun nimmt das Blau uns ein.
Etwa auf der Höhe von Jethou können wir nach Papageientauchern Ausschau halten, hatte Scott empfohlen. Sie würden mit hektischen Flügelschlägen übers Wasser huschen und seien nicht größer als Tauben. Leider ist es mir auch dieses Mal nicht vergönnt, Puffins aus der Nähe zu erleben, geschweige denn, sie vor die Linse zu bekommen. Das ging schon auf den Färöer Inseln schief.
Für die gut 14 Kilometer zwischen Guernsey und Sark benötigt das Boot weniger als eine Stunde. Dann legen wir an, und alles ist anders. Zwar war es das auch auf Guernsey schon, aber nun erst recht. Autos? Fehlanzeige. Aspaltierte Wege? Bloß nicht. Demokratie? Ok. Aber erst seit 2008. Zuvor wäre ich im letzten europäischen Feudalstaat gelandet. Doch nun mal langsam.
Am Anfang geht es erst einmal in den Toaster.
Die mehr oder minder touristische Schiffsladung verteilt sich auf die Anhänger zweier Traktoren. An Toaster soll die Rhythmik der Sitzreihen erinnern, finden die Sarkees. Very british. Unser Traktor zieht steil bergauf, ich sitze am Toasterrand, und Jane gemahnt mich nicht hinauszurutschen. In den Kurven gebe ich mir Mühe. Wir sind ja noch nicht gar, äh, da, im Hauptort der Insel mit dem praktischen Namen The Village. Noch praktischer ist, dass The Village mittig auf Sark liegt. Man hätte ab dem Anleger eigentlich zu Fuß gehen können, aber Jane überlasst uns den sportlichen Teil für den Rückweg.
Anarchie der Farben
Das ist also Sark. Eine Insel im Ärmelkanal, keine sechs Quadratkilometer groß, 600 Einwohner. Jeder kennt jeden. Ein ländliches Leben, umzingelt vom Meer. Mein Haus, mein Traktor, mein Boot. Kutschen mit gepflegten Pferden warten auf die Gäste. Die Kutscher amüsieren sich, weil wir ein Pferd porträtieren. Dann steigen wir auf die Leihräder und düsen von The Village zur „Seigneurie“, Sitz des Lehnsherren mit öffentlichem Garten.
Müsste man nicht ab und zu einem Traktor ausweichen, das Leben wäre voller Vogelgezwitscher. Die Sonne drängt sich durch die Wolken, und Sarks Wege wirken so retro. Weil man diesen Asphaltmangel nicht gewohnt ist. Für den Hintern so angenehm wie fürs Auge? Hängt von der Fahrweise ab. Löchern weiche ich lieber aus, dem ein oder anderen Stein auch.
Frühling in der Luft, Fahrtwind im Haar. Life is beautiful.
Auch der Garten des Lehnsherren erwacht zu neuem Leben. Die Anarchie der Farben beherrscht die Symmetrie der Anlage, oder umgekehrt. Bienen summen. Ja, Bienen! Nur das Gewächshaus ist leer, symptomatisch für die Kanalinseln, die einst gerne Pflanzen exportierten. Wir streifen mit einer Gärtnerin durch die Anlage, bevor wir den Seigneur treffen. Der kommt gegen unsere Erwartungen ganz leger daher und unterscheidet sich äußerlich nicht vom Team Garten.
Er zeigt uns auch gleich die Steinbrunnen, die er kreiert hat, weil er den Sound des Wassers so liebt. Dann ziehen wir die Schuhe aus, um das Steinhaus zu betreten, dessen älteste Teile aus dem Jahr 1675 stammen. Rundherum blickt die Ahnenwelt auf uns herab. Oder sagen wir besser: die ehemaligen Dames und Seigneurs aus drei Familien. Manchmal gucken sie auch an uns vorbei. Christopher Beaumont ist übrigens der 23. Seigneur of Sark.
Willkommen im Museum
Mehrere Anbauten auf unterschiedlichen Niveaus bilden ein durch Treppen verbundenes Labyrinth mit Kaminzimmer, Bibliothek, Teeraum, Gäste- und Badezimmern. Die Sofas sind mit „Please don’t touch“-Schildern dekoriert, denn die Beaumonts leben nebenan. Und doch empfangen sie Gäste hier, noble Gäste. So dürfen wir einen Blick auf das Bett werfen, in dem zuletzt Charles und Camilla genächtigt haben.
Es gab über 400 Jahre lang keine Scheidungen auf Sark, keine Straßenbeleuchtung, keine Sozialversicherung, keine Einkommensteuern. Scheinbar lebten die Insulaner gut mit dem alten System. Inzwischen kann man sich sehr wohl scheiden lassen. Seit 2008 existiert ein Parlament, genannt Chief Pleas, das unter anderem eine Vision für die Insel entwickelt. Immerhin hält der Seigneur ein Vetorecht für Parlamentsbeschlüsse. Doch er sagt, er steht hinter ihnen.
Dem Chief Pleas liegt viel daran, die Grundbesitzregelung zu reformieren. Demnach gilt der Seigneur als Lehnsherr von 40 gleich großen Landparzellen der englischen Krone. Zu kaufen und verkaufen sind demnach immer nur die darauf gebauten Häuser, einen echten Grundbesitz kannte man auf Sark nicht.
Brecqhou, eine Sark vorgelagerte Felseninsel, wurde als eines der 40 Tenements von britischen Milliardären, den Barclay-Brüdern, erworben. Diese verdienen ihr Geld mit Immobilien und begannen ihren Feldzug auch auf Sark. Sie erwarben Geschäfte und Hotels. Allerdings schafften sie es bislang nicht, ihren Einfluss auf das Parlament auszudehnen, auch wenn sie versuchten, die Inselgemeinschaft zu spalten.
Was ihm an Sark besonders gefalle, frage ich den Seigneur. „Die Leute“, antwortet er spontan. „Man fühlt sich wie verwandt, auch wenn man es nicht ist.“ Und dann die Natur. Ohne Autos und Straßenlaternen ist man näher dran an der Natur, denke ich. Nachts leuchten die Sterne je nach Himmel, und ohne Asphalt ist Mutter Erde besser zu fühlen. Autos braucht man auf der kleinen Insel wohl auch langfristig nicht. Selbst der Krankenwagen wird vom Traktor gezogen.
Die schönste Stelle
Teatime. Der Seigneur lässt uns im Café nebenan Scones probieren, natürlich mit Marmelade und der guten Clotted Cream von den Kanalinseln, genau sonnengelb wie die Butter. Auf Sark ist es übrigens unerheblich, wie man schichtet, ob Marmelade oder Cream oben landen. Geschmacklich kein Unterschied. So könnten wir noch eine Weile draußen sitzen und über Scones und das Leben philosophieren.
Doch wird es Zeit, „Goodbye“ zu sagen. Und so schwingen wir uns wieder auf die Räder, um bei „La Coupee“ tief durchzuatmen. Hier verbindet eine schmale, gewundene Straße Sark und Little Sark. Hier fallen die Klippen bis zu 100 Meter tief hinab aufs blaugrüne Meer. Hier wird es bei heftigem Wind fast unmöglich, aufrecht über den schmalen, verbindenen Grat zu laufen. Radfahren verboten, von hier an geht es zu Fuß weiter. Kommt ein Vintage-Traktor des Weges, heißt es, an Plätzchen an der Seite zu ergattern.
Auch wenn dieser kuriose Flecken Erde in der Zeit steckengeblieben ist, wünscht man sich doch, er möge seinen stoischen Charakter beim Voranschreiten bewahren. Ein Hund steht neben dem Traktorfahrer und sieht uns im Vorbeifahren an. Wir gucken zurück, schwer begeistert, und der Fahrer lacht.
Um auf Sark zu leben, so heißt es, muss man gut mit sich selbst zurechtkommen. Im Winter versinkt die Insel oft im Nebel. Das muss schön sein.
Text und Fotos: Elke Weiler
Mit Dank an Visit Guernsey, die diese Reise ermöglicht haben.
wie schön auf dieser Insel zu leben,Natur pur
Das mag ich auch, ein einfaches Leben, umgeben vom Meer.
Liebe Elke,
in die Kanalinseln habe ich mich vor knapp 25 Jahren verliebt und war leider noch nie dort! Eine Schande, findest du nicht? Mein Herz pocht, und wenn Bronco (mein vierbeiniger Erzieher-Bruder-Freund, ein Irish Setter, noch leben würde, würden wir jetzt unser Zeug packen und dorthin entschwinden. Wenn du wüßtest, wie sehr mir dieses kleinkarierte, unfreundliche Bonn auf die Nerven geht!
In Gedanken bei deinen Eindrücken,
alles Liebe
Franziska
Liebe Franziska, mir ging es so ähnlich wie dir. Ich hatte im Fernsehen hin und wieder ein paar Eindrücke aufgeschnappt, war nun zum ersten Mal dort und bin voll infiziert mit dem Kanalinsel-Virus!
Dass dir Bonn auf die Nerven geht, kann ich gut nachvollziehen, ich habe mein Hauptstudium dort verbracht. Es ist alles hübsch und nett, aber eben auch spießig. Wenigstens liegt es am Rhein! Du hattest einen Irish Setter als Kumpel? Die fand ich als Kind so toll. Und natürlich Boomer. :-) Liebe Grüße! Elke
Liebe Elke,
das klingt wunderbar – Guernsey ist ein großer Traum von mir und für Afternoon Tea bin ich ja sowieso immer zu haben. Leider leider habe ich es auch nach unzähligen Schottland-Aufenthalten immer noch nicht geschafft, Puffins zu sehen. Nächstes Jahr will ich unbedingt mal zur Brutsaison hin. Eine Freundin von mir hat mir übrigens gerade ein Bild aus der Bretagne geschickt…da gibt es Bier mit Papageientaucher-Logo ;).
Viele Grüße,
Sandra
Liebe Sandra,
cool, die Bretonen! :-) Ja, das Problem mit den Papageientauchern verfolgt mich auch… Aber irgendwann klappt es, da bin ich sicher.
Viele Grüße,
Elke
Was für ein schöner Bericht von einer faszinierenden kleinen Insel! Ich war bisher nur auf Jersey, habe aber große Lust, auch die übrigen Kanalinseln zu erkunden. Danke für die Inspiration!
Danke dir! Jersey würde mich auch sehr interessieren. :-)