Die Magie von Undredal

Wir sehen Undredal zunächst vom Boot aus, und es gefällt mir sofort: Ein einsames Dorf am Aurlandsfjord, bunte Häuser, die man im Vorbeifahren zählen kann. Dahinter erheben sich steil die Berge, Schneeflecken on the top.

Auf unserer Schiffstour von Flåm nach Gudvangen geht es erst mal über das UNESCO-Welterbe, den Nærøyfjørd. Dann biegen wir links in den Aurlandsfjord ab. Die schmale Passage, flankiert von der beeindruckenden Berglandschaft, erinnert mich an die Fahrt durch die Drei Schluchten des Jangtse in China – vor der Errichtung des gigantischen Staudamms.

Felsgestein von der Natur geformt, das die Fantasie anregt. Plötzlich siehst du Gesichter, meinst Tiere oder Fabelwesen zu erkennen. Vermutlich sogar einen Troll mit dicker Nase, denn diese sollen ja in den Bergen und Wäldern leben.

Undredal war lange Zeit nur per Boot erreichbar.
Das Dorf am Fjord, das Dorf der Ziegen.

Bis 1988 konnte man Undredal nur mit dem Schiff erreichen, doch heute fahren wir vorbei. Die Fähre hält erst wieder in Gudvangen, es ist die letzte an diesem Tag. Hier endet unsere zweistündige Cruise und auch der Aurlandsfjord wird in Gudvangen zur Sackgasse.

Glücklicherweise führt nun eine Straße nach Undredal, wir müssen lediglich durch den Gudvanga Tunnel fahren. Wo sind die berühmten Ziegen von Undredal? Als wir den kleinen Ort erreichen, zeigt sich weder Mensch noch Tier auf den Straßen. Es ist schon spät.

Denkmal der Ziegen

Undredal hat zwar nur 80 Einwohner, aber dafür 500 vierbeinige Hornträger, die maßgeblich an der Käseproduktion beteiligt sind. Mitten im Dorf hat man ihnen ein Denkmal gesetzt, heute Abend die einzige Ziege weit und breit.

Und dann der erste Einwohner: In unserem Apartment direkt am Fjord steht Leif Inge Underdal und bildet das Empfangskomitee. Wir wissen noch nichts über ihn, doch sein Nachname scheint ein klares Indiz dafür sein, dass er zum Dorf, und das Dorf zu ihm gehört.

Leif Inge wird für uns singen.
Leif Inge wird für uns singen.

Wir werden ihn am nächsten Tag im Osteklokka Café treffen. Denn Leif Inge kennt die Ziegen und die Käsemacher. Außerdem kann er singen. Doch an diesem Abend lässt er uns ohne eine Kostprobe im Apartment am Fjord zurück. Ich freue mich natürlich, in der Mitte von Nichts die weltbeste Netzverbindung zu haben. Doch durch das Spektakel vor der Haustür bleibt keine Zeit fürs Surfen.

Der Fjord, die steilen Berghänge, der Sonnenuntergang. Zunächst beleuchtet er die Bergspitze schräg über uns in einem kräftigen Orange-Rosa. Auf die andere Seite des Fjords zaubert er einen Regenbogen aus tiefhängenden Wolken. Und Richtung Gudvangen wird der Himmel zu purer Magie. Wie ein Schleier fällt das Abendrot den Himmel hinab.

Farbspektakel am Fjord

Was zählt es da, dass unsere Wohnung einfach eingerichtet und eher Retro ist? Es passt zu dieser Einfachheit des Dorflebens. In dem kleinen Ort direkt am Fjord macht so oder so die Natur die große Show. Und ich könnte die ganze Nacht nur draußen stehen. Bis die Müdigkeit mich überwältigt.

Das reinste Farbspektakel am Fjord
Das reinste Farbspektakel am Fjord

Mein Zimmer hat direkten Fjordblick, richtig abdunkeln kann ich es mit den Ziergardinen nicht. Also bleibt mir die Helligkeit norwegischer Juninächte erhalten. Lohnt es sich zu schlafen? Ich träume wild.

Schon recht früh am Morgen weckt mich das Brummen einer gigantischen Hummel. Oder was kann das sein? Ohne Brille ist eine genaue Identifizierung schwierig, also ziehe ich mir vorsichtshalber die Bettdecke über den Kopf. Wieso musste ich auch das Fenster auflassen? Um mich stärker mit der Natur verbunden zu fühlen. Und die gute Luft im Traum zu riechen.

Ein Wort über Brunost

Jetzt bin ich hellwach, und die Hummel ist weg. Bald ist Frühstückszeit mit Ziegenkäse und Leif Inge, doch dafür müssen wir ein Stück durch den Ort laufen. Unser Gastgeber hat uns den Weg genau erklärt.

Auf dem Weg zum Frühstück
Auf dem Weg zum Frühstück

Er führt uns zunächst steil hinauf, dann wieder hinab, vorbei an den bunten Häusern, die wir am Tag zuvor vom Schiff aus gesehen haben. Undredal scheint noch zu schlafen. Ich entdecke ein halb verfallenes Holzhaus und bekomme Lust, es wieder aufzubauen – meine zukünftige Ferienhütte am Fjord.

Vom Café im Eldhuset können wir den Blick über die Berglandschaft schweifen lassen. Wir sitzen auf Holzbänken mit gemusterten, handgewebten Auflagen und trinken Kaffee an der frischen Luft. Das Frühstücksbuffet ist mit Liebe zusammengestellt.

Die Norweger lieben Brunost, einen karamellisierten, braunen Ziegenkäse, dessen hauchdünn vom Laib gehobelte Scheibchen meist am Gaumen kleben. Ich ziehe den leicht salzigen, weißen Geitost aus Undredal vor, der wie Manchego in Dreiecke geschnitten ist und auch eine vergleichbare Konsistenz hat.

Was eine echte Huldra ist, spielt Geige.
Was eine echte Huldra ist, spielt Geige.

Gleich nach dem Frühstück erscheint Leif Inge auf der Bildfläche und bittet uns hinein ins Eldhuset. Gestern noch war er ganz „normal“ gekleidet, heute hingegen hat er sich in Schale geworfen und trägt eine traditionelle Lederweste mit passender Mütze. Steht ihm gut.

Auch der Gesang. Es geht um alte Weisen, um Bauern und Tiere und das wilde Leben in der Region. Ich denke: Geschichtenerzähler gehören zum Welterbe wie der Nærøyfjord und Bryggen in Bergen. Sie sind wunderbar, egal ob Leif Inge in Norwegen oder die Xhosa-Frauen in Südafrika. Und am besten ist es, wenn sie ihre Geschichten singen.

Slow Food

Unser Gastgeber weist auf die lange Tradition des Käsens hin. Im steilen Gelände des Fjords können sich die Ziegen nun mal am besten bewegen. Es ist ihr Gebiet, denn eine landwirtschaftliche Nutzung lohnt sich nicht. Also stehen den Ziegen große Flächen zum Grasen zur Verfügung, auf denen sie sich frei bewegen können.

Endlich! Die Ziegen!
Endlich! Die Ziegen!

Leif Inge erklärt uns, dass die Molke für den Braunkäse stundenlang gekocht wird, und der Milchzucker dabei karamellisiert. In den 90er Jahren haben die sechs Undredaler Käsemacher durchgesetzt, weiterhin mit frischer Ziegenmilch arbeiten zu dürfen und sie nicht laut neuer Verordnung pasteurisieren zu müssen. Die Kooperative Undredal Stølsysteri ist Teil der Slow Food-Bewegung in Norwegen.

Plötzlich greift Leif Inge nach einem Troll. Einer von der Sorte, wie man sie häufig in Souvenirläden sieht. „Sie sind verbreitet in Norwegen“, meint er lächelnd. „Doch bei uns sind es eher die Huldren.“ Und er zeigt uns das weibliche Pendant zum Troll: Eine blonde Frau, ebenfalls mit dicker Nase, die Geige spielt.

Zeit für Geschichten

So repräsentiere die Huldra auch den Sound der Natur, etwa das Rauschen des Wassers. Ich muss wieder an die Flambahn, das Spektakel am Kjosfossen und den Tanz der Huldra denken. „Die Menschen nutzten ihre Fantasie, um ihr Leben interessanter zu machen“, erzählt Leif Inge.

Keine schlechte Idee, hier in der Einsamkeit des Fjords, umgeben von Bergen, vor allem in der Dunkelheit langer Winternächte. Da bleibt viel Zeit für Fantastisches. Wieder beginnt unser Geschichtenerzähler zu singen, seine Füße stampfen zum Rhythmus leicht auf.

Und dann kommt Møyfrid.
Und dann kommt Møyfrid.

Ich sehe mir die Huldra noch einmal an. Warum sie wohl den Schwanz eines Tieres hat? Vielleicht können mir die Ziegen von Undredal etwas dazu sagen. Wir treffen sie nämlich auf dem Rückweg. Malerisch liegen sie direkt neben der schmalen Straße, die nach Undredal und wieder hinaus führt.

Ich bitte um ein Interview, und die Resonanz ist groß. Besonders eine der Kleineren drängelt sich in den Vordergrund. Nennen wir sie Møyfrid. Gegenüber ihren Artgenossen spielt sich das kesse Zicklein ziemlich auf und stellt sich vor Übermut auf die Hinterbeine.

Die Stalkerin

Dann kommt Møyfrid entschlossen auf mich zu, leckt meine Hand und beginnt meine Jacke leicht anzunagen. Sie will auch meine Kamera, vermutlich denkt sie – genau wie Pferd Charlie vom Norefjell – es handele sich um eine Möhre.

Møyfrids Message: Es gibt nichts Besseres, als Zweibeiner anzuknabbern. Daher bleibe ich nicht ihr einziges Opfer. Auf dem Rückweg heftet sie sich in guter alter Stalking-Manier an meine Fersen. Ich kann mich so gerade noch in den Bus retten. Doch als ich zwei Tage später wieder zu Hause bin, verkünde ich: „Ich will eine Ziege.“ Am besten eine Møyfrid.

Alles Gute, deine Elke!
Ha det bra!

Text und Fotos: Elke Weiler

P.S.: Der vorletzte Teil der Fjordorwegen-Reise führt aufs Wasser. Eine Kajaktour mit einer ganz besonderen Begegnung…

Mit Dank an Innovation Norway für die Unterstützung der „Fjell & Fjord“-Reise.

„Dorfgeschichten“ betitelt eine neue Reihe von Meerblog. Uelvesbüll auf der Halbinsel Eiderstedt machte den Auftakt, und weiter ging es mit Panker in Ostholstein.

10 thoughts on “Die Magie von Undredal

  1. Liebe Elke,

    einfach lesenswert. Man fühlt sich direkt dorthin versetzt. Ich bin gespannt – auch auf Hallig Hooge…

    Beste Grüße gen alte Heimat,

    Sven

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