Vor uns zieht die „Annemarie“ ihre Bahnen durch die Nordsee, eines der beiden Frachtschiffe, die auf Hooge beheimatet sind und die Gegend mit Baumaterialien versorgen. Denn von selber kommen allerhöchstens Flaschen ohne Post oder anderes Treibgut mit der Flut auf die Halligen – fragile Fleckchen Erde vor der nordfriesischen Küste, die von weitem wie Fata Morganas über dem Wasser zu schweben scheinen.
Nichts weiter als die Anhäufung von Schlicksand, vom Meer angespült und bei Sturm wieder fortgetragen. Der „Blanke Hans“, so sagt man hier, die stürmische Nordsee, nimmt und gibt. So hat sich die Halligwelt mit den Sturmfluten gebildet, und so wurde auch das Erscheinungsbild immer wieder verändert.
Auch die kleine Hallig Gröde, unser Ziel mit der MS Rungholt, hat im Laufe der Zeit ihr Gesicht verändert. Kapitän Uwe Petersen erzählt von der heftigen Sturmfluten in den Jahren 1962, 76, 81 und 90, als die Warften noch nicht ausreichend hoch waren. Das sind die von Menschen mühsam aus Kleiboden aufgeworfene Hügel – die einzigen Stellen auf den Halligen, die bei „Landunter“ noch aus dem Wasser ragen. „Heute sind die Warften erhöht und die Häuser sturmsicher gemacht“, erzählt der Kapitän weiter.
Und doch – ganz sicher sein kann man nie. Bei der ruhigen See von heute und dem strahlenden Sonnenschein scheint der Gedanke an Sturmfluten und ihre verheerende Wirkung weit weg. Schon nach einer guten halben Stunde legen wir in Gröde an – gemeinsam mit zwei anderen Personenschiffen. Von zwei Seiten ergießen sich Besucherströme auf den knapp 2,5 Quadratmeter großen Flecken im Meer.
Der Halligflieder ist Anfang Oktober schon verblüht. Einige Schafe und Pensionsvieh, Rinder vom Festland, beweiden in aller Gemütsruhe die Flächen rings um die Warften und beäugen die Tagesgäste neugierig, die über den geteerten Weg in Richtung Warften laufen.
Das Sightseeing beginnt unmittelbar, während die Übernachtungsgäste ganz stilecht mit dem Traktor abgeholt werden und viel mehr Zeit für das wahre Halligleben haben. Kühe zur Linken, das Meer zur Rechten, dann der erste Stopp: die Kirchwarft. Rund um die Lehrerwohnung, in der auch die beiden Hallig-Kinder bis zum 9. Schuljahr unterrichtet werden, strömen die Besucher auf den winzigen Friedhof und in die kleine Kirche St. Margarethen aus dem 18. Jahrhundert.
Man fotografiert, bestaunt den aus einem Vorgängerbau noch verbliebenen Renaissance-Altar, verweilt kurz, zieht weiter zur Knudswarft. Schließlich legt das Schiff in einer Stunde wieder ab. Von den 17 Einwohnern ist zur Zeit keiner zu sehen. Außer … Monika am gleichnamigen Kiosk. Dort hat sich auch schon einen Schlange gebildet. Ein normaler Saisontag? „So voll ist es oft bei Flut“, meint die Kioskbesitzerin.
Wir sind im sozialen Mittelpunkt der Hallig gelandet. Hier treffen sich auch die Einheimischen gerne zum Klönschnack, wenn sie von den Küstenschutzarbeiten zurück kommen. Dann von der Landwirtschaft lebt auf Gröde niemand mehr. Die salzigen Wiesen sind nährstoffreich und werden deshalb von anderen Gästen regelmäßig abgegrast – zig Tausenden von Ringelgänsen, die im Frühjahr auf der Durchreise nach Sibirien sind.
Monika verkauft neben Eis, Marmelade und Ansichtskarten auch ihre hausgemachten Knerken gut – ein Mürbegebäck „nach altem Familienrezept“, wie sie beteuert. Nachfragen sinnlos, Knerken-Rezepte werden von den Halligfrauen wie Augäpfel gehütet. Die knackigen Hallig-Kekse sind lange haltbar, soviel steht fest, und konnten so früher auf den Schiffen auch als Brotersatz verwendet werden.
Denn die Halligmänner waren einst tüchtige Seefahrer – beliebt wegen ihrer guten Navigationskenntnisse. Nun also Knerken für hungrige Touristen. Während sich zwei Mädels zum Eisschlecken auf der Warftwiese niedergelassen haben, suchen andere Tagesgäste die Toilette auf, die privat von der Familie Mommsen geführt wird – „mit der Bitte um Sauberkeit“. Eine Spendenbox ist ebenfalls angebracht.
Es ist diese spannungsgeladene Mischung aus hoher Intimität und der Weite des Meeres, die das Leben hier scheinbar ausmacht. Man sagt, Gröde sei eine der ursprünglichsten Halligen. Vielleicht, weil sie so klein und autofrei ist.
Für so viel unmittelbar erlebbare Natur nimmt man wohl in Kauf, keinen Bäcker, kein Restaurant und kein Kaufhaus um die Ecke zu haben. Und sich im Winter, wenn die Schiffe bei Eisgang nicht fahren können, übers Watt zu versorgen. Zur Not horten die Gröder dann auch Vorräte für zwei Monate.
Ein Stückchen führt der Weg noch rund um den Fething der Knudswarft, auf der sich die wenigen Wohnhäuser um das zentrale Wasserspeicherbecken herum gruppieren. Glücklicherweise ist man heute nicht mehr darauf angewiesen, das Regenwasser auch für die Zisterne zu sammeln, denn seit 1976 ist auch Gröde an das Trinkwassersystem des Festlandes angeschlossen.
Vor einem kleinen Schild, das eine Schafszeichnung und die Aufschrift „Privat“ trägt, endet der Rundgang auf der Warft abrupt. Was bleibt ist ein Spaziergang rund um die Hallig oder ein kleines Picknick mit einem eventuell mitgebrachten Matjesbrötchen auf der Warftwiese – immer das Meer im Blick.
Text und Fotos: Elke Weiler
Kann man die Halligen auch im Winter besuchen unter übernachten? Ich plane schon das nächste Silvester-Abenteuer!
Auf Gröde, Hooge und Langeness gibt es Ferienwohnungen, auf letzterer sogar ein Hotel mit guter Küche. Aber ob die Halligen erreichbar sind und wie, hängt natürlich vom Wetter ab. Auf Gröde gibt es keinen Kaufmann, da muss man seine Lebensmittel spätestens ’ne Woche vorher bestellen. Bestimmt nett, Silvester auf ’ner Hallig!