Wir leben im Wasser

Wattenmeer Kutschfahrt

„Wir haben noch einen Meter Wasser vor der Hallig“, heißt es, als ich in Fuhlehörn auf eine der drei Kutschen steige.
„Dann müssen die Leute schwimmen.“ Die Organisatoren der Kutschfahrten von Nordstrand nach Südfall nicken sich vielsagend zu.
„Das sagen wir denen gar nicht.“ Ein Grinsen können sich die beiden nicht verkneifen.
Schließlich an uns gerichtet: „Haben Sie etwas gehört?“
Und alle Gäste im Chor: „Nö!“

Die beiden Fjordpferde ziehen an, ganz gemütlich geht es noch ein kleines Stück den Deich hinunter und dann auf einem steinigen Pfad durchs Watt. Uwe Jörns erklärt vorn auf dem Kutschbock, dass das Kunststoffgeschirr auf dem Fell nicht scheuert, wenn es nass wird. Das sind so Dinge, an die man denken muss, wenn die Pferde durchs nasse Watt laufen. Aber natürlich werden wir nicht durch einen Meter tiefes Wasser fahren.

Hü hott, oder so.

Unser Ziel ist die Hallig am Horizont, und für die sieben Kilometer lange Strecke werden wir etwa eine Stunde benötigen. Südfall liegt in der Schutzzone 1 des Nationalparks. Daher gibt es nur zwei Möglichkeiten dorthin zu gelangen: Einmal mit der Kutsche, zum anderen auf einer geführten Tour zu Fuß durchs Watt. In beiden Fällen braucht es eine Sondergenehmigung.

Es ist noch frisch an jenem Morgen, und ich beneide diejenigen, die wohlweislich eine Decke eingepackt haben und sich nun einkuscheln können. Stille im Watt. Da ist nur das Ruckeln der Kutsche, das Klappern der Hufe auf dem Steinpfad. Doch irgendwann hört er auf, und der Weg übers Watt ist mit Holzpfählen gekennzeichnet. Das Klackern verwandelt sich in ein gleichmäßiges Platschen, denn von der letzten Flut sind noch ein, zwei Zentimeter Wasser übrig geblieben.

„Wir könnten auch schneller fahren“, meint Kutscher Jörns. Doch wer braucht schon Schnelligkeit im Watt, wo die Welt entschleunigt ist? Wo der Meeresboden im Morgenlicht glänzt. Wo nichts ist bis zum Horizont. „Jeder Tag ist anders“, meint Uwe Jörns. Und ich weiß, was er meint. Es gibt Unterschiede in diesem Nichts. Erstaunlich viel Abwechslung.

Rhythmisches Platschen.

Zur Vorbereitung auf den Landflecken, der sich vor uns abzeichnet, erzählt der Kutscher ein wenig über die Geschichte der Gegend. Denn vor der ersten Groten Mandränke, der großen Sturmflut von 1362, war Husum noch keine Küstenstadt, die Inseln und Halligen existierten nicht. Stattdessen zog sich ein Sanddünenwall von Sylt bis zur Eider, dahinter das Festland.

Mit der Flut brachen die relativ niedrigen Deiche an etlichen Stellen, Rungholt und sieben weitere Orte gingen unter. Südfall entstand als erste Hallig gemeinsam mit Nübell und Nielandt, die in späteren Sturmfluten jedoch wieder von der Landkarte verschwanden. Damals war Südfall allerdings gut zehn Mal so groß wie heute.

Mit der zweiten Groten Mandränke wird Strand in die heutigen Teile Pellworm, Nordstrand und Nordstrandischmoor zerpflückt. Auch Hallig Südfall gehörte vor der ersten Groten Mandränke zum Landstrich Strand. Heute zählt es verwaltungstechnisch zur Insel Pellworm, die zu unserer Rechten liegt.

Warft am Horizont

Südfalls einzige Warft, die wir schon von weitem ausmachen können, wurde im 19. Jahrhundert errichtet, nachdem die sogenannte Halligflut sämtliche Warften zerstört hatte, und die Bewohner ertrunken waren. Trotzdem wurde jener Wohnhügel errichtet, und die Hallig erwachte zu neuem Leben. Als ihre berühmteste Bewohnerin galt die Gräfin von Reventlow-Criminil, die mitsamt Hofstaat und Tieren bis zu ihrem Tod mit 90 dort lebte.

Steht das Wasser nicht mehr auf dem Weg, verfallen wir in Trab. Selbst mitten im Watt sind wir eingekesselt von Landstreifen am Horizont: Zur einen Seite die Halbinsel Eiderstedt, zur anderen Pellworm, Hallig Nordstrandischmoor und hinter uns Nordstrand. Ab und an gibt der mitfahrende Hund ein kurzes Bellen als Kommentar von sich.

Ist der Kutscher gut, sind die Pferde relaxed.

Erst als wir uns der Hallig nähern, hören wir sie. Vogelstimmen überall, vor allem die Austernfischer machen Terz. Aber kein Wunder, denn es herrscht Brutzeit im Juni. Für uns bedeutet das: achtsam sein. In den anderthalb Stunden, die uns auf Südfall bleiben, sollen wir die Wege auf der Warft nicht verlassen. Viel Platz bleibt innerhalb der Zäune nicht.

Insgesamt misst die Hallig heute gerade mal 56 Hektar. Aber für Gunda und Gonne Erichsen reicht das völlig aus. Von März bis November wohnt die Vogelwartin mit ihrem Mann auf Südfall, beide sind auch im Küstenschutz tätig. Wir werden herzlich begrüßt, sowohl von den Erichsens als auch von ein paar Schafen, die sich sodann um die Pferde kümmern.

Parking Position

Allerdings schaffen es auch einige, den Zaun zu umgehen und sich auf der Warft unter die Gäste mischen. Da ruft Gunda ihrem Mann auf Plattdeutsch zu, er möge die Schafe doch bitte hinauskomplimentieren, sonst müsse er nachher den Schiet einsammeln. „Gerne, mein Schatz“, antwortet Gonne.

Wir Gäste breiten uns ein wenig aus, drehen eine Runde und entdecken das aufgestellte Spektiv für Vogelbeobachtungen. Denn die im Juni brütenden Seevögel sind die Hauptakteure auf der Hallig. Auch schon mit bloßem Auge sind unzählige Lachmöwen (sprich: Laachmöwen) auf den Fennen auszumachen.

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Gunda und Gonne haben aufgetischt. Während die Anderen am frühen Mittag teilweise schon deftig speisen, habe ich mich für ein Stück hausgemachten Kuchen und Kaffee entschieden. Und fürs Draußensitzen. In der Mitte der Warft tummeln sich ein paar Ziegen um den Fething, in dem Regenwasser aufgefangen wird.

Eine der Ziegen ist besonders neugierig: Sie lächelt nicht nur charmant in meine Kamera, sondern will auch dem Rest der Welt zeigen, dass sie da ist und steigt aufs Häuschen. Ein Traktor steht mitten auf der Wiese, vermutlich ist es der, den Gunda und Gonne zum Einkaufen benutzen.

Trügerische Idylle

Einmal pro Woche wird es Zeit dafür, ansonsten reiten sie lieber zum Festland. Die Kinder seien quasi auf dem Pferderücken groß geworden, verrät Gunda Erichsen. Doch inzwischen sind sie flügge und eher selten auf der Hallig anzutreffen. Ringsherum nur Weite und Watt, nur vor Westerhever ist das Meer noch zu sehen. Eng wird es auf Südfall erst, wenn die Nordsee zurückkommt.

Wird auf einen Deich nur von einer Seite Druck ausgeübt, umzingelt das Meer eine Warft immer. „Man guckt hinaus und weiß, wo man ist“, meint Gunda. „Wir leben im Wasser.“ Und genau das mache den Unterschied zwischen Hallig und Insel aus. Alle drei bis fünf Jahre holen sie sich nasse Füße. Dabei heißt es bis zu 50 Mal im Jahr Landunter auf Südfall.

„Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
Wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schüttert‘ und stöhnte,
Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, blanke Hans.“

(Aus dem Gedicht „Trutz, blanke Hans“ von Detlev von Liliencron, 1883)

Gunda erzählt.

Rungholt, der legendäre, einst so lebhafte Ort, hier irgendwo liegt er begraben, zwischen Südfall und Pellworm. Ausgelöscht im 14. Jahrhundert. Naht heute eine Sturmflut, und man hält sich gerade auf einer Hallig auf, sollte man Skat und Doppelkopf beherrschen, scherzt Gunda. Und zwischendurch immer mal schauen, wie hoch das Wasser schon steht.

Jede Flut bringt Schlick mit sich, und das bräuchte die Hallig, um zu wachsen. „Wir schlicken jedes Jahr ein bisschen auf.“ Und doch ist eines sicher: Ohne aktiven Küstenschutz gäbe es Südfall längst nicht mehr. Fast hätte ich Lust, mich um den Job zu bewerben, sollten Gunda und Gonne sich mal zur Ruhe setzen wollen. Doch das wird so schnell nicht der Fall sein.

Irgendwas zu knabbern?

Gonne kann es jedes Jahr kaum erwarten, wenn es im Frühjahr wieder auf die Hallig geht. Seine Frau liebt jede Jahreszeit auf Südfall, und auch im Winter kommen sie ab und an, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn das Eis knirscht, und alles so ruhig ist, dass man den Aggregator von Hallig Süderoog hört.

Langsam machen wir uns wieder auf den Rückweg, unsere Zeit auf Hallig Südfall ist abgelaufen. Als ich wieder in Fuhlehörn auf Nordstrand stehe und zum Horizont blicke, kommt mir der Landflecken ein bisschen näher, bekannter und größer vor. Vor allem aber voller Leben. Gut brüten, ihr Seevögel!

Abschied
Heimwärts
Feierabend
Wattwanderung?

Text und Fotos: Elke Weiler

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