Und Matisse tanzt

L.E.T.

Wir wohnten im selben Haus, mein Vormieter hatte Schach mit ihm gespielt. Es war in meinen journalistischen Anfangszeiten, als ich Harald Naegeli traf. Einer der ersten Streetart-Künstler, der noch heute, mit 77 Jahren, seine raumgreifenden Strichfiguren auf Hauswände sprayt. Sie bewegen sich, nehmen Bezug, rocken, tanzen durch die Stadt. Gegen Spießigkeit, Eintönigkeit, urbane Tristesse. Gegen zubetonierte Lebensräume.

In den 70er Jahren war Naegeli aus Zürich nach Düsseldorf geflohen. Denn seine Werke gefielen den Zürchern nicht, man warf dem Künstler Sachbeschädigung vor. Erwischt, verurteilt, geschmäht, floh der Sprayer aus Zürich. Obschon sich Künstler wie Joseph Beuys und auch Politiker für Naegeli einsetzten, konnte der internationale Haftbefehl nicht unwirksam gemacht werden.

Der Künstler stellte sich, verbüßte seine Strafe in der Schweiz und entschied sich für Düsseldorf. Dort lebt und sprayt er bis heute, wenn er nicht gerade in seinem Atelier sitzt und zeichnet. Dann das Sprayen im öffentlichen Raum stellt nur eine Facette seines Werkes dar. Und in Sachen Streetart ist er längst nicht mehr allein auf weiter Flur.

Die alte Fabrik

Gemeinsam mit Meike von meikemeilen treffe ich einen Mann mit dem Pseudonym L.E.T. (Les enfants terribles) in einem urigen Düsseldorfer Kneipenrestaurant. Ausgerechnet in Bilk, wo auch Harald Naegeli vielleicht gerade in seinem Atelier an Urwolken zeichnet.

Immer noch bewegen sich Streetart-Künstler im illegalen Raum. Doch etwas hat sich in den letzten 20 Jahren grundsätzlich geändert: Ihre Kunst wird anerkannt, mehr noch, Streetart ist heiß begehrt. Als schönes Beispiel mag das Ehepaar gelten, das die frischen Paste-Ups von L.E.T. abzieht, obwohl sie seine Werke auch in Galerien kaufen könnten. Denn auch das hat sich geändert: Straßenkünstler stellen aus. Sie verkaufen Teile ihres Werks.

L.E.T. etwa wählt Materialien wie alte Türen oder rostige Schilder als Projektionsfläche für seine Motive, die seine Fans bereits von der Straße kennen. Auf diese Weise verdient er nicht nur seinen Lebensunterhalt und kann an Ausstellungen teilnehmen, sondern schafft auch ein Stück Streetart für drinnen. Doch „das Schmutzige, den Straßencharakter“ will er seinen Werken auf diese Weise erhalten.

Kleinformatige Werke von ihm sowie anderen Künstlern finden wir auf der Brunnenstraße in der Galerie „Pretty Portal“. Zwar baut Klaus Rosskothen gerade um, doch neben Werken von L.E.T. finden wir weitere alte Bekannte wie „kurznachzehn“, eine Ex-Düsseldorferin, die inzwischen in den USA lebt, sowie die kleinen Geister von PDOT, die die Stadt an jeder Ecke bevölkern.

L.E.T. und PDOT haben bereits gemeinsame Werke geschaffen, eines davon finden wir auf der Zimmerstraße an einem Hauseingang. „Die Szene kennt sich“, sagt der Künstler. Meist auch international. Ein weiteres Gemeinschaftswerk ist in der Nähe seines Ateliers auf der Suitbertusstraße zu sehen. „I no longer make my parents proud“, meint ein kleiner Junge mit grimmigem Blick.

Streetart LET
The Making-of

Wie eine kleine Galerie wirkt die Wand vor dem Eingang zum „Boui Boui“. Noch gilt die ehemalige Schraubenfabrik als cooler Veranstaltungsort und beherbergt unter anderem das Atelier von L.E.T. Doch wie üblich in solchen Fällen und symptomatisch für Düsseldorf, gibt es einen Investor, der die Location rasieren und neu bebauen will. Lobenswert allemal das Konzept der Zwischennutzung.

Wir haben das Glück, uns in L.E.T.s Atelier ein wenig umsehen zu dürfen. Er arbeitet gerade an „la danse + one“, unverkennbar eine Hommage an Matisse. Oder ist es gar Matisse selbst, der in der Mitte seiner Tänzerinnen eine flotte Sohle aufs Parkett legt? L.E.T. verneint. Seine Figuren stammen meist von alten Fotos und zeigen Unbekannte.

Doch mein Kunsthistorikerherz schlägt höher, und ich sehe eine frappierende Ähnlichkeit mit Henry Matisse: die Kopfform, der Haaransatz, die Brille. Am meisten aber verliebe ich mich in die Idee, dass Matisse selber tanzt. Geradezu entrückt. Wieder auferstanden in der Collage eines zeitgenössischen Künstlers. L.E.T. ist noch unzufrieden, was den Hintergrund angeht. Doch für mich ist es schon perfekt in dieser Skizzenhaftigkeit. Nur ein Ort ist noch zu finden.

Am liebsten mag ich Kunst, die für die Straße konzipiert ist, auch genau dort. Es ist die demokratischste Art von Kunst. Sie ist für jeden sichtbar, kostet keinen Eintritt und macht jeden Spaziergang in einer Stadt zu einem Erlebnis. Der Blick wird von keiner Mauer gestoppt, sondern geht geradewegs in des Künstlers Seele. Streetart kratzt an der grauen Oberfläche, ist geistreich, gewitzt und gerne auch gesellschaftskritisch bis politisch.

Beliebte Motive der Künstler: Kinder, Affen, Ratten. Ich frage L.E.T., warum so viele Kinder in seinen Werken vorkommen. Da geht es um den Kontrast der rauen Umgebung zum kindlich Sanften. Auch wenn der Künstler gerne andere Hauptfiguren sucht, Ideen sind nun mal nicht planbar.

L.E.T. interpretiert gerne Motive von alten Fotografien neu, erstellt dann Schablonen, kombiniert das Motiv mit Sprüchen oder auch nicht. Vieles entsteht durch Zufall, wie er preisgibt. Die US-Amerikanerin Swoon zählt zu seinen Vorbildern, doch L.E.T. gehört selber zu den Streetart-Künstlern der ersten Stunde, ist seit 1992 aktiv.

Schnell hat er sich den Stencils verschrieben. Er kreiert eine Schablone, findet einen Ort und sprüht auf die Wand. Dafür gibt es sogar spezielle Spraydosen, wie er uns erklärt, damit der Druck beim Sprayen nicht die Schablone anhebt. Und dann sind da noch die Paste-Ups, eine Art Plakat, das mit Kleister auf die Wand gebracht wird. Das macht sie noch vergänglicher als andere Streetart-Werke.

Das Flüchtige gehört wie das Heimliche und der Ruch des Verbotenen zur Streetart. Immer noch wird nachts gesprüht und gepastet, immer noch an Stellen, die dafür nicht gedacht sind. Auch wenn es inzwischen bereits als Nachteil für eine Stadt empfunden wird, wenn sie nicht über ausreichend gute Werke auf ihren Außenflächen verfügt.

Veredelung der Stadt

Auch wenn es inzwischen Streetartfestivals in Dörfern wie dem italienischen Dozza und Städten wie dem norwegischen Stavanger gibt. Letzteres hat sich durch sein NuArt-Festival übrigens unter die Top 10 der Städte in Sachen Streetart katapultiert.

Harald Naegeli und L.E.T., die sich übrigens nicht persönlich kennen, agieren im Dunkeln und erleben ihre Stadt dabei anders. Intensiv. Mit dem Atem der Nacht. Sie nehmen in Kauf, dass ihre Kunst vergänglich ist. Mir gefällt dieser Gedanke sehr.

Kunst, so kostbar wie flüchtig, eine Hommage an das Leben.

Text und Fotos: Elke Weiler

Wie finde ich Streetart in Düsseldorf?

Natürlich hilft es immer, mit offenen Augen durch eine Stadt zu gehen. Meike und ich haben uns mithilfe von Tipps und einer guten Finder-App durch Bilk in Richtung Bahnhof bewegt. Für Düsseldorf wurden 160 Stellen gespottet, allerdings sind einige verzeichnete Kunstwerke auch schon Geschichte. Zum Einstimmen ist die Seite von Sebastian Hartmann sehr schön, das streetartmag. Leider datiert der letzte Eintrag auf 2015. Bei 40 Grad Urban Art sind sowohl diverse Kunstwerke auf der Karte verzeichnet als auch der Termin für die nächsten Events.

Streetart oder Street Art?

Letzteres ist englisch. Im Deutschen schreibt man es laut Duden entweder zusammen oder mit Bindestrich. Während der Duden die zweite Version empfiehlt, optiere ich für die geschmeidige Zusammenführung. Bindestriche gibt es eh en masse.

3 thoughts on “Und Matisse tanzt

  1. Wunderbar geschrieben, Elke. Streetart interessiert mich eigentlich wirklich nicht, aber es ist total spannend zu erfahren, welche Geschichte hinter der Person steckt, die diese Kunst an die Wände sprayt. Danke dafür!
    Liebe Grüße, Kathy

    1. Danke, liebe Kathy, das freut mich sehr! Sonst hat man ja selten das Glück, einen Künstler auch zu treffen oder mal einen Blick ins Atelier werfen zu können, das war echt klasse! :-) Liebe Grüße aus Holland! Elke

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