Die Lichterkönigin

Lichterkönigin

Wenn sich im Dezember schon früh die Dunkelheit über Gotland legt, dann leuchtet Visby. Und das liegt nicht nur am Schein der Kerzen und Laternen, die Eingänge und kleine Nischen erhellen, oder an der Weihnachtsbeleuchtung. Visby, so scheint es, glänzt von innen. Vielleicht liegt es am Alter der Stadt, an ihrer Gemächlichkeit, vielleicht an der Art, wie Visby gehegt und gepflegt wird. Vielleicht an allem, am Leben. Und weil gerade so dringend Licht benötigt wird, feiern die Schweden am 13. Dezember das Lucia-Fest mit einer Lichterkönigin.

Gegen Abend strömen die Leute in den Dom von Visby, bis auf den letzten Platz ist alles besetzt. Währenddessen werden hinter den Kulissen die letzten Vorbereitungen getroffen, fast wie bei einem Theaterstück, Ballett oder Konzert. Noten und Choreografie sollen beim Lucia-Fest stimmen. Die in diesem Jahr agierenden Mädchen ziehen sich um, frisieren und schminken sich. Vielleicht wird noch jemand eine Nachricht texten, einen Rat einholen, den einer Mutter beherzigen oder nicht, einer Freundin etwas erzählen, eine Stimmprobe machen. Eine Art von geschäftiger Nervösität macht sich breit. Das große Finale naht. Der stimmungsvollste aller Auftritte.

In einem der Nebenräume des Doms treffe ich die 17-jährige Tova Klint, Lichterkönigin im letzten Jahr. Ihre Locken sind fertig gedreht, die lange weiße Robe hat sie bereits übergestreift, nur die rote Schärpe fehlt noch. Zur Lucia von Gotland auserkoren zu werden, war eine wirkliche Überraschung. Ihre Mutter schrieb heimlich die Organisatoren an, als Tova in Stockholm weilte. Dann zog die Lichterkönigin des Vorjahres das Los. Und Tova Klint stand auf dem Zettel. Dabei hat sie sonst nie Glück bei Auslosungen.

Kerzenlicht, Visby
Im Schein der Kerzen

Im Gegensatz zu anderen Orten existiert in Visby kein Wettbewerb und keine Wahl, wenn es um die Neubesetzung zum Lucia-Fest geht, eines der wichtigen schwedischen Feste im ganzen Jahr. Es ist die Zeit der Dunkelheit, und die Zeit der Kerzen. Die Zeit, in der Safranduft durch die Küchen und guten Stuben wabert, überall sogenannte Lussekatter oder Lusseboller gebacken werden.

Der ehedem kürzeste Tag

Dabei stammt die heilige Lucia aus dem italienischen Siracusa. Man feiert sie am 13. Dezember, weil sie einst ihre Glaubensgenossen mit Lebensmitteln versorgte. Um beide Hände frei zu haben, trug sie einen Kranz mit Kerzen auf dem Kopf. Wie oft bei solchen Festivitäten kreuzen sich christliche und heidnische Traditionen. Denn vor der Einführung des gregorianischen Kalenders galt der 13. Dezember als kürzester Tag im Jahr, es war Wintersonnenwende. Seit dem 19. Jahrhundert etablierte sich das Lucia-Fest in Schweden: Licht, Wärme und Hoffnung soll in schwedische Häuser getragen werden.

Alles beginnt bereits in der Woche vorher. Die alte Lichterkönigin hilft hier und dort, gibt Ratschläge. Tova und ihr Trupp singen in der Öffentlichkeit und lesen Gedichte vor. Auf Plätzen und in den Gassen von Visby trifft man sie, außerdem werden Licht, Gebäck und Freude in Altersheime, Kirchen, Kindergärten gebracht.

Auch Rentner singen die Lucia-Lieder gerne mit, manchen stehen die Tränen in den Augen, Erinnerungen kommen hoch. Ein besonders berührender Moment, als eine ältere Dame Tovas Hände hält und erzählt, dass sie früher einmal Chorleiterin gewesen war. Tovas Mutter steht im Hintergrund und nickt kaum merklich, als ihre Tochter davon erzählt.

„Ich bin immer ein bisschen nervös“, gibt die Lichterkönigin vor dem Auftritt zu. Und ich lasse sie lieber allein mit ihren Freundinnen und ihrer Mutter, denn Tova muss weitermachen, die letzten Handgriffe am Outfit, an der Frisur, aufmunternde Worte, ein Moment des Innehaltens.

Auch bei mir tauchen Szenen aus der Vergangenheit auf: der große Auftritt in der Festhalle vor Weihnachten. Das Rauschen in den Umkleidekabinen. Dann hebt sich der Vorhang, die Bühne mit Leben gefüllt. Jedes Jahr führten wir ein anderes Märchen mit der gesamten Ballettschule auf. Das Lampenfieber, das den Körper bis in den Zehspitzen elektrisiert. Herzklopfen, bis der Vorhang fällt.

Stilla natt

Um 19 Uhr läuten die Glocken, in der Kirche wird es ganz still. Alle stehen auf zum Singen, während sich die Lucias der Vorjahre als schwarz gekleideter Chor formieren. Das erste Sankta-Lucia-Lied erklingt, um Tova und ihrem Gefolge aus sechs Mädchen ein musikalisches Geleit zu geben. Würdevoll und langsam schreiten sie die Gänge entlang. Tova muss wegen der Kerzen auf ihrem Kopf besonders achtgeben.

Nun wird abwechselnd gelesen und gesungen, die Lucia-Mädchen tragen Verse vor. Mal fühlt sich die Veranstaltung wie eine Messe an, mal wie ein Konzert oder eine Lesung. Dompastorin Cecilia Nyberg ergreift das Wort, ein längerer Text, ich verstehe nicht viel. Von Lusseboller ist jedenfalls auch die Rede. Während der Chor „Stilla natt“ singt, geht die Kollekte um. Nach dem kirchlichen Lied „Dät er en ros utsprungen“ folgt endlich die schwedische Version des italienischen Santa Lucia-Songs.

Visby, Gotland im Winter
Abends in den Gassen von Visby

Textlich haben die beiden nichts miteinander zu tun. In Schweden geht es um das Lucia-Fest, in Italien um Neapels Fischerhafen Santa Lucia. Um die Schönheit des Meeres. Berührend klingt das Lied immer. Und darum gefällt es mir als Abschiedslied, den feierlichen Auszug der Lucia begleitend. Ein letztes Mal tragen die Mädchen das Licht durch die Dunkelheit zu den Menschen. Dann kehren alle wieder zurück zum Alltag, und für mich geht es am nächsten Tag mit der Fähre zum Festland. Doch das Lied hallt nach. Jedes Jahr höre ich es wieder – immer um den 13. Dezember herum.

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an Destination Gotland, die meine individuelle Recherchereise ermöglicht haben, sowie an Visit Gotland für die Organisation vor Ort!

6 thoughts on “Die Lichterkönigin

  1. In den letzten Jahren hat das Luciafest in Schweden ja immer mehr an Bedeutung gewonnen. Überall in Schweden findet man leuchtende Luciaumzüge… Wunderbar.. Ich würde gerne dieses Fest besuchen..

  2. Ich suche meine Cousine: Ursula Hannelore Schütz. Sie ist 1937 geboren und lebt schon seit Jahren auf Gotland, früher in Stockholm. Sie ist oder war Künstlerin. Ich habe keine Adresse und keine e-mail von ihr gefunden. Vielleicht ist sie auch verstorben.
    Kann mir bitte jemand helfen, sie zu finden.

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