Visby im Winter

Wir sind spät dran, als die Propellermaschine von Stockholm in Richtung Visby endlich abhebt. Neben mir versinkt eine ältere, schwedischsprachige Dame mitsamt Winterjacke im Sitz. Nach der Landung hilft man ihr ungefragt. Einer holt wie selbstverständlich den Koffer aus dem Gepäckfach, ein Anderer zeigt ihr die Ausstiegsrichtung an, und die kleine Frau schwebt in einer Wolke aus Umsicht und Fürsorge hinaus.

Draußen ist die Nähe des Meeres gleich zu spüren, in Stockholm war die Luft kälter, härter. Als hätte die gotländische Luft etwas Sanftes, salzig bis süßlich wie guter Karamell. Kein Wind und mäßige Temperaturen im Dezember. Doch ich bin noch nicht am Ziel.

„Sieben Minuten“, antwortet der Taxifahrer auf meine Frage, kurz darauf erreichen wir ein mittelalterliches Tor. Gelandet in einer anderen Welt. Außerhalb des Banalen, das Beton zu schaffen imstande ist. Ich habe, so scheint es, den Ort maximaler Beschaulichkeit erreicht. Hübsch, gemütlich, niedlich sind Synonyme für die Altstadt von Visby.

Es ist so ein Ort, dem die winterliche Dunkelheit nichts ausmacht. Der sie empfängt wie einen alten Freund. Wie ein Mantel darf sie sich über ihn legen. Nie zu schwer, denn Visby leuchtet auch im Dunkeln. Es ist so ein Ort, an dem man sich augenblicklich wie zu Hause fühlt und selbst am ersten Abend ohne Geleit vom Restaurant zurück zum Hotel findet. Auch nach dem Genuss eines Schnapses, der obligatorisch in Verbindung mit dem schwedischen Julbord ist, dem Weihnachtsbuffet.

Visby by night

Ebenso wie snapsvisa, ein Schnapslied, inhaltlich der Jahreszeit angepasst: Hej tomtegubbar, slå i glasen och låt oss lustiga vara! „Hallo Weihnachtswichte, füllt die Gläser und lasst uns fröhlich sein!“ Zwischen gefühlt hundert verschiedenen Variationen von Hering, Lachs und dem obligatorischen Weihnachtsschinken schenkt einem das Lied eine kleine Pause und lockert die Stimmung mehr als ein Schnaps es je könnte.

Ein Schlückchen, noch eine Strophe, noch ein Schlückchen, immer schön zuprosten und später ein weiteres Lied. Natürlich kann man sich einfach nur „Skål“ wünschen, aber welchen Sinn macht das schon, wenn man zusammen singen kann? Ich wundere mich bei fast jedem Schwedenbesuch, wie viele Lieder das gemeinsame Gedächtnis bilden.

Visby by day

Für jede Gelegenheit gibt es snapsvisor, egal ob Mittsommer, Krebsessen oder Weihnachten. Ja, es soll ein ganzes Schnapsliederbuch geben, mit dem man sich auf die Feste vorbereiten kann. Beinah hätte ich ein paar Lieder gelernt, als ich an Mittsommer in Malmö zu Besuch war.

Von Rosen und Ruinen

Am nächsten Morgen will ich mir nach dem Frühstück unbedingt den alten Turm neben meinem Hotel anschauen, der eigentlich gar keiner ist. Vielmehr handelt es sich um eine der Kirchenruinen, die das Stadtbild von Visby genauso prägen wie die mittelalterliche Struktur und die kopfsteingepflasterten Gassen. Fast vergesse ich die Zeit in Sankt Clemens.

Sankt Clemens

Beim Treffen mit dem Archäologen und Kunsthistoriker Lars Kruthof im Gotlands Museum erfahre ich mehr über die Ruinen. Vor allem aber über die wechselvolle Geschichte von Visby, teilweise losgelöst vom Rest der Insel, teilweise in Opposition zu dieser. Von einer wohlhabenden Stadt, die durch ihre Lage inmitten der Ostsee fast immer vom Handel profitierte. Egal, ob zu Zeiten der Wikinger oder der Hanse.

Was Lars mir aus grauen Vorzeiten erzählt, ist verblüffend: Vor 490 Millionen Jahren lag Gotland nämlich am Äquator, wo sich gerade ein großes Korallenriff formte. „Noch heute sind überall Fossilien zu finden“, sagt der Experte. Das sei am besten auf der im Norden vorgelagerten Insel Fårö zu sehen. Da ich dieses Mal von Visby in den Süden der Insel fahren werde, habe ich also nun schon Pläne für den nächsten Gotland-Besuch.

Meeting am Museum

Immer noch würden sie auf Gotland Wikingersilber finden, erzählt Lars weiter. „80 Prozent aller schwedischen Silberfunde stammen von hier.“ Die Insel sei übrigens zweisprachig: Neben Schwedisch werde auch Gotländisch gesprochen, das wiederum mit dem Isländischen verwandt sei.

Während Visby zu Zeiten der Hanse noch boomte, herrschte nach dem Mittelalter Armut auf ganz Gotland. Davon zeugen die ganzen Kirchenruinen, die ebenso wie die Rosen und die farbenfrohen Fassaden das Bild der Stadt prägen. Einige der Rosensträucher tragen immer noch halb vergilbte Blüten. Im Dezember.

Die Veranda von Visby

Ein Rabe spaziert mit einer Walnuss im Schnabel über die Wiese. Hier, wo die gotländische Hauptstadt einen Hang „hinaufhüpft“. Wo man den schönsten Blick über die Stadt hat. Ich bin am Meer gewesen, habe zum Hafen hinüber geschaut, bin durch einen Park und durch unzählige Gassen flaniert, kreuz und quer, habe sämtliche Stufen rechts vom Dom genommen und stehe nun am scheinbar höchsten Punkt der Altstadt. Auf einer Art Veranda aus Stein und Gras.

Der Mittelpunkt

Während ich den Blick über Visby schweifen lasse, wird mir klar: Bei all dieser Schönheit zieht es mich am meisten zu den Ruinen, die hier und dort im gepflegten Stadtbild aufpoppen wie Fremdkörper, wie Souvenirs der Vergangenheit. Zeichen des Halbfertigen, des Unperfekten. Risse in der ebenen Fläche. Faszinierend wie eine unvollendete Skulptur Michelangelos.

Es ist jener Bruch im Schönen, Glatten, Homogenen. Ein Fenster im Gemäuer der Geschichte. Jede Kirchenruine ist anders, einige sind grundsätzlich begehbar wie Sankt Clemens, andere sind meist verschlossen und dienen als Eventlocations. Visby lebt auch in seinen Ruinen. So gab es mal eine Eislauffläche in der geräumigen Sankt Karin, die dieses Mal in Rot schwelgt, sobald sich die Dunkelheit über die Stadt legt.

Auch Hochzeiten innerhalb der Mauerreste sind beliebt. Unter den kaputten Kirchen finde ich sogar einen oktogonalen Bau, einzigartig in der Stadt, einzigartig in ganz Schweden. Ebenso so einzigartig wie der Rundbau der Santa Maria della Salute in Venedig, Thema meiner Abschlussarbeit an der Uni, damals. Jetzt ist es endgültig um mich geschehen. „Helge And“ steht auf dem Schild, denn die Ruine gehört seit dem 13. Jahrhundert zum Heilig Geist Spital.

Man nimmt an, dass sie zunächst als Kirche für Pilger erbaut wurde. Als wir Jeremy, einen Kollegen von Lars, zufällig auf der Straße treffen, spricht Lena ihn ohne zu zögern an. „Bei ‚Helge And‘ handelt es sich vermutlich um die fehlende Jakobskirche“, sprudelt es aus Jeremy hervor.

Lena kennt nicht nur ganz Visby, sondern hat auch den Schlüssel für den Rundbau besorgt, und so können wir in der Ruine herumklettern. Wuchtige Wände, breite Pfeiler, und doch fehlt es „Helge And“ keinesfalls an Eleganz und Virtuosität. Man betrachte nur den Schwung der Bögen, die sich wie ein Kranz im Gewölbe treffen.

Fast kann ich den Chor hören.

Etwas Licht fällt durch ein achteckiges Loch in der Decke, vom Obergeschoss konnte man zur Kanzel hinabschauen. Singend. Jeremy hat nämlich ein Dokument aus dem 14. Jahrhundert erwähnt, demzufolge ein Nonnenchor in der oberen Etage gesungen hat. Der Tag, der so farbenfroh begonnen hatte, ergraut langsam, während wir aus der Ruine stapfen, langsam die Treppe wieder hinuntersteigen, unterstützt vom Handylicht.

Jetzt hat mich das winterdunkle Visby wieder, mit seinen Kerzen, Laternen und krummen Gassen, den erleuchteten Fenstern, mit seiner ganzen Heimeligkeit. Vielleicht ist es im Winter sogar am schönsten.

Bis zum nächsten Mal!

Text und Fotos: Elke Weiler

Mit Dank an Destination Gotland, die meine individuelle Recherchereise ermöglicht haben. An Lena Thorn von Visit Gotland für ihre tolle Organisation und Flexibilität.

Die Spezialität im Bakfickan: Fischsuppe

Danke an Ella Wahlgren, mit der ich mich ein Mittagessen lang unterhalten konnte – während des Genusses der exquisiten Fischsuppe im „Bakfickan“. Ella stammt aus Uppsala und erzählte mir, dass sie vor 18 Jahren zu Besuch auf Gotland war. Und ehe sie sich versah, heiratete sie einen Insulaner, bekam vier wohlgeratene Kinder und lebt glücklich in der Nähe von Visby. Ellas Lieblingsort ist übrigens Fårö.

Und nicht zuletzt lieben Dank an Linda Runarsdottir & Adam Jacobsson von Destination Gotland für die Einführung ins Julbord in Verbindung mit dem schwedischen Schnapsliedgut. Nächstes Mal singe ich mit, bestimmt.

Ha det bra!

Fortsetzung folgt: Nun geht es in den Süden von Gotland mit Safrankuchen, Bastelfreuden und Schafen.

Mehr Schweden im Winter? Kommt mit zu den Eisläufern auf dem Hjälmaren.

13 thoughts on “Visby im Winter

  1. Liebe Elke,
    frohes neues Jahr, auch wenn etwas spät.
    Nun bist Du in einer meiner liebsten Städte, die ich je gesehen habe. Zur Zeit sitze ich viel zu verspätet an den Artikeln über Åland und wir planen unseren nächsten Trip vielleicht im Februar wieder nach Gotland und evt. nächstes Weihnachten zu einer der beiden Inseln. Da habe ich mit Freude Deine Artikel gesehen.

    Ach ja, hier der Text zum schönsten schwedischen Weihnachtslied:

    Hej tomtegubbar, slå i glasen,
    och låt oss lustiga vara!

    Hej tomtegubbar, slå i glasen,
    och låt oss lustiga vara!

    En liten tid vi leva här
    med mycken möda och stort besvär.

    Hej, tomtegubbar, slå i glasen
    och låt oss lustiga vara!

    Skål

    Hej, tomtegubbar, slå i glasen,
    och låt oss lustiga vara!

    Hej tomtegubbar, slå i glasen,
    och låt oss lustiga vara!

    En liten tid vi leva här
    med mycken möda och stort besvär.

    Hej tomtegubbar, slå i glasen
    och låt oss lustiga vara!

    Genießt die tolle Umgebung.

    Kai

    1. Lieber Kai,

      danke dir, und ebenso alles Gute für 2019!

      Es gibt bei diesem lustigen Schnapslied wohl noch eine zweite Strophe, die zum Tanzen animiert, also sehr passend. :-)

      Ich war ja im Dezember auf Gotland. Genieße jetzt aber auch die tolle Umgebung, wenn ich zu Hause bin.

      Und Visby, ja, das ist eine wunderbare Stadt. Gerade lief im NDR so eine Art Ranking der Ostseestädte (gemessen an der touristischen Beliebtheit), dabei habe ich allerhand Interessantes gesehen. Danzig etwa und Klaipeda… Warst du dort schon?

      Ich wünsche dir schöne Ferien im Februar!

      LG, Elke

  2. Hallo liebe Elke!
    Oh, ich muss dir Recht geben – Visby ist einfach bezaubernd :-)
    Ich war im Sommer zum ersten Mal dort und fand es wunderschön.
    Ganz unbedingt muss ich noch mal hin und auch Fårö besuchen…
    Aber jetzt geht es erstmal nach Stockholm, Mariehamn, Tallinn und Riga.
    Wir schicken dir liebe Grüße vom Hamburger Flughafen!

  3. Liebe Elke,

    der Blick von den Stufen runter in den Ort erinnert mich ein wenig an Hildesheim, wenn man da am oberen Treppenende angekommen ist.
    Einfach traumhaft, was du uns an Erlebnissen und Beschreibungen mitbringst. Meine Nase versank grad auch in deiner Schilderung über das südliche Gotland.

    Liebe Grüße
    Franziska

      1. Liebe Elke,

        das, was Hildesheim durch den zweiten Weltkrieg und die Bauphase retten konnte – die Innenstadt ist typisch häßlich-zweckmäßig – ist auf jeden Fall sehenswert. Alles habe ich nicht mehr im Kopf, weiß aber noch, das außerhalb des Stadtkerns viel Grün dominiert und der Dom mit seinem uralten Rosenstock war auf jeden Fall sehenswert.

        Liebe Grüße,
        Franziska

  4. Hallo Elke,
    dein Artikel über Visby liest sich mehr wie ein Kapitel aus einem Roman als wie ein Reiseblog. Das gefällt mir! :-) Ich habe die Stadt dieses Jahr im Juni erlebt und fühlte mich ebenfalls wie in einer anderen Welt. Das lag hauptsächlich an den vielen Kirchenruinen, die dem Ort einen etwas surrealen Anstrich verleihen. Dein Bericht macht Lust, auch mal im Winter zu kommen.
    Herzliche Grüße,
    Annika

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