Von hier an barfuß

Nicht alle Strände sind gleich als solche zu erkennen oder zu definieren. Manche sind wild, weit weg, wüstenartig und genau deswegen wunderschön. Auch, weil man sich quasi jenseits der Zivilisation in winzigen Details verlieren kann. Die Sandbank von Westerhever ist so ein Ort. Ein Glücksort für diejenigen, die Minimalismus lieben.

Letzten Sommer. Ein heißer Tag im August, und der Weg ist lang. Mein Rad habe ich gleich hinter den Salzwiesen geparkt. An der Stelle, wo sich die Leute gerne niederlassen und auf die enormen Sandmassen von Westerhever hinausblicken. Westerheversand stellt einen sogenannten Hochsand dar, der nur selten überspült wird.

Mit Hut ist gut.

Flirrend die Luft am Horizont, dort überm Meer. Meinem Meer, der Nordsee. In der ich Jahr um Jahr baden gehe. Das Meer, das ich liebe. Mal sanft, mal aufbrausend. Mal grau, mal ockerfarben, dann wieder grün oder tiefblau. Manche werfen ihm vor, es wäre trüb. Aber genau das mögen die Krabben. Andere werfen ihm vor, dass es sich oft zurückzieht. Doch genau jenes Wechselspiel der Gezeiten macht es besonders. Und es erlaubt uns, über den Meeresboden zu laufen.

Ich lasse die Salzwiesen hinter mir. Ein Paar überholt mich auf Mountainbikes, ein anderes schreitet wie ich zu Fuß über den schier endlosen Westerheversand. Tschüss, Schuhe! Von nun an nur noch barfuß. Irgendwann verklingen die Stimmen der Vögel, der Austernfischer, Kiebitze und Rotschenkel. Raum und Zeit verwischen.

Das Licht

Die Silhouette des Leuchtturms verschwimmt im diesigen Morgenlicht. Ich mag diesen Dunst, der sich wie ein Weichzeichner um die Dinge legt, die Konturen verwischt. Links die Pfahlbauten von Sankt Peter-Ording, schwebend wie eine Fata Morgana. Doch nach einer Weile bilden sich locker geformte Wölkchen am Himmel, die Sonne bricht durch, der Himmel macht blau. Der feine Sand schmeichelt unter den nackten Sohlen, die Füße graben sich mit jedem Schritt nur wenig ein, so fest ist er.

Westerheversand
Dieser Himmel

Weit und breit kaum eine Seele. Nur noch Wüste und Himmel, Himmel und Wüste. Eine fast runde Stille, in der das Brummen eines Schiffsmotors am Horizont bis zur Sandbank dringt. Wieviele Sandkörner bilden diese Wüste? Man kann sich verlieren. Die Gedanken fliegen lassen. Im Kreis tanzen, rückwärts laufen, Luftsprünge machen, Räder schlagen, sich in den Sand werfen, rollend panieren.

Wie lange gehe ich schon? Das Zeitgefühl schwindet. Je langsamer man unterwegs ist, desto weniger existiert es. Auf dem Weg entlang der Pfahlstümpfe lande ich vor einem einsamen Holzgestell. Ein Rest von Zivilisation mitten im Nichts. Einst existierte auch eine Treppe, und man konnte bei schlechten Sichtverhältnissen Zuflucht suchen und den Notruf tätigen. Fast wirkt das Gestell wie eine Bake, das letzte Seezeichen der Sandbank.

Mutter Erde

Das Paar hat die Mountainbikes hier angelehnt, gleich unter der alles bestimmenden Botschaft unserer Zeit: „No Planet B“ ziert in bunten Lettern die Holzruine, die vom aufgeregten Meer in diesen Zustand versetzt wurde. Auch jenen verlassenen Zipfel der Welt hat das Memo erreicht. Oder vielleicht gerade diesen. Denn ausgerechnet im Nichts, in der Endlosigkeit von Westerheversand fühlt man sich verbunden mit der Natur, mit Mutter Erde.

Westerheversand
Klare Sache

Das Rauschen der Nordsee wie schallgedämpft. Das Wasser blubbert und gurgelt leise, verläuft sich im Sand, schiebt ein paar Muscheln und Algen vor sich her. Ein Stück weiter hat sich eine Familie mit Hund auf angeschwemmten Paletten niedergelassen. Das etwas andere Strandmobiliar. Ein Pärchen, das etwa gleichzeitig mit mir loszog, ist nach links abgebogen und hat sich in der Weite verloren.

Nach und nach erreichen andere Wüstenliebhaber die Wasserkante, darunter ein italienisches Paar. Sie nicken mir freundlich zu, die ich gerade mit den Dingen des Spülsaums beschäftigt bin. Muscheln, Algen, Wasserbläschen. „Buongiorno“, antworte ich lächelnd. Wer hätte es ahnen können.

Das Meer

Meine Sachen deponiere ich ein Stückchen weiter weg, denn der Höhepunkt der Tide ist noch nicht erreicht. Ich muss jetzt ins Meer steigen, lechze nach Salzwasser auf der Haut. Nach Schwerelosigkeit. Gemütlich auf den Rücken liegend schaue in den Himmel. Das Meer um mich herum. Auf großzügigen Armen trägt es mich, wiegt mich hin und her wie einen Teil seiner selbst.

Irgendwann hat mich die Wüste wieder, irgendwann trete ich den Rückweg an. Die Kinderstimmen werden leiser, die Rufe der Vögel kehren zurück. Angeschwemmter Müll liegt im Sand, Plastikbecher, ein Kanister, ein kaputter Liegestuhl aus Holz, Farbe Türkis. Muscheln, unzählige Muscheln in einem Meer von Fußspuren, die sich seit der letzten Sturmflut angesammelt haben müssen.

Sie werden wieder verschwinden, verstrichen vom Wind, ausgespült vom Meer, wenn der Herbst kommt. Und ich, ich könnte etwas in den Sand schreiben, irgendwas. Mich noch einmal hineinwerfen. Mein Abdruck im Sand, vergänglich wie alles andere. Die Weite von Westerheversand inhalierend. Mich verlieren, alles vergessen, auch die Zeit. Sandbänke sind wie pudrige Aquarelle an Sommertagen, wenn der Himmel dahingetupft und diffus erscheint. Sandbänke sind von radikaler Schönheit, Sandbänke sind pures Glück.

Westerheversand

Text und Fotos: Elke Weiler

Praktische Infos

Wer den unbewachten Strand auf der Sandbank ansteuert, sollte vielleicht zuvor die Toiletten auf dem Parkplatz des Leuchtturms von Westerhever besucht haben. An der Wasserkante ist Selbstversorgung angesagt, meine Wasserflasche habe ich in Strandstunden stets dabei. Bei der Rückkehr gibt es die Möglichkeit, einen der beiden Kioske in der Nähe des Parkplatzes aufzusuchen. In dem einen sind zum Beispiel Spezialitäten vom Schäfer wie Lammfrikadellen, in der anderen Eis, Pommes und Fischbrötchen im Angebot. Eine spontane Besichtigung des Leuchtturm Westerheversand ist übrigens nicht möglich. Dazu braucht es eine telefonische Kartenreservierung, vor allem in der Hauptsaison sind die Führungen sehr beliebt. Ich hatte die Ehre, mit dem letzten Leuchtturmwärter den Turm hoch steigen zu können. Inzwischen übernimmt Hein Geertsen nur noch selten Führungen.

Und ein bisschen Lesestoff

Weitere Geschichten und Anregungen für draußen und drinnen findet ihr kompakt in meinen Büchern. „52 Eskapaden von Sylt bis Sankt Peter-Ording“ mit Touren in und um Nordfriesland erschien 2018 im DuMont Reisebuchverlag. „Leben am Wattenmeer“ mit Porträts vom Leuchtturmwärter, Fischer, Seehundjäger oder der Trachtenschneiderin habe ich gemeinsam mit dem Fotografen Ralf Niemzig beim Bruckmann Verlag realisiert.

Buchtipps für Nordfriesland

Ganz frisch im Regal liegen meine „Glücksorte in Nordfriesland“. Darf es ein Stück allerbeste Trümmertorte sein oder ein Konzert im Kirchlein überm Meer? Eine kleine Wanderung irgendwo im Nirgendwo des größten Koogs von Nordfriesland oder ein paar Gedanken im Garten des Kunstmuseums? Ein Meeting mit Milchschafen auf Eiderstedt oder Robben auf Helgoland? Die Glücksorte-Reihe wird vom Düsseldorfer Droste Verlag publiziert.

10 thoughts on “Von hier an barfuß

  1. Herzlichen Glückwunsch zu Deinem neuen Buch. Ich bin neugierig darauf.
    Haben wir gerade das gleiche Thema Eiderstedt :-)
    Wird Zeit, dass es mal wieder trocken wird- man will nur noch raus.
    Wollen wir hoffen, dass die einsamen Orte in diesem Jahr nicht geflutet werden…

    Lieber Gruß

    Kai

    1. Danke dir! Gerade kommt alles ein bisschen zusammen. ;-) Und ich versuche immer mal wieder einen der ungenutzten Strandbuchtexte umzuarbeiten für den Blog. Bald geht es aber weit weg von Eiderstedt. Und ja, die Sehnsucht nach Frühling und Sonne ist groß. Für den Sommer gibt es diverse Szenarien, schauen wir mal.
      Liebe Grüße!
      Elke

  2. Herzlichen Glückwunsch, liebe Elke, das klingt nach einem tollen Buch! Dass Westerhever glücklich macht, stimmt ja jedenfalls schon mal. Ich glaube, das ist sogar mein Lieblingsort an der Nordseeküste. Und dass obwohl ich erst einmal dort mit dem Wetter Glück hatte. Ich werde das Buch beim nächsten Buchladenbummel auf dem Zettel haben. Bin ganz gespannt. Liebe Grüße, Stefanie

    1. Danke, liebe Stefanie! Ich dachte immer, dein Lieblingsort an der Westküste wäre nahe einer Sauna auf Sylt. Aber bei mir ändert es sich auch hin und wieder, beziehungsweise gibt es mehrere davon. Liebe Grüße nach Hamburg! Und wer weiß, vielleicht laufen wir uns ja irgendwann endlich mal in SH über den Weg! :-)

  3. Wunderschön und deine Texte… – wie immer ein Hochgenuss.
    Kenne zwar Nordfriesland inzwischen recht gut, bin mir aber sicher in deinem neuen Buch noch einige tolle und interessante NF-Schätze zu entdecken.
    Danke Elke.

    1. Danke, lieber Helmut! Bist du eigentlich nach Nordfriesland gezogen? Auf eine Insel oder Hallig? Das muss grandios sein! Gerade auf einer Hallig stelle ich mir das Leben schön vor, auch wenn man auf vieles verzichten muss. Liebe Grüße, Elke

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